Das Erbe der Apothekerin - Roman
beiderseitige Verlegenheit werden wir am leichtesten überwinden, wenn wir sie einfach ignorieren und so tun, als wäre nichts Besonderes gewesen. In Wahrheit ist es ja auch nichts Weltbewegendes, wenn ein junger Bursche zu einer Hübschlerin geht. Dafür sind die Frauenzimmer schließlich da! Vielleicht wäre es allerdings besser für Betz – und für mich auch –, ihn nicht mehr wie einen Knaben oder Knecht zu duzen.«
Am Vorabend ihres Ganges zu dem berühmt-berüchtigten Reformator war Magdalena entsprechend aufgeregt und befragte nach dem Nachtmahl eingehend ihren Vetter Julius, der ausnahmsweise wieder einmal einen Abend unter seinem eigenen Dach verbrachte, nach den Hintergründen.
»Was die Kardinäle bei Hus so besonders wütend macht, ist dessen stures Festhalten an den Thesen von Marsilius und Wyclif«, wusste Julius, der sich behaglich in seinem Lieblingssessel vor dem knisternden Kamin niedergelassen hatte.
»Verzeiht, Vetter, ich habe von den beiden Männern, die Ihr erwähntet, noch nie etwas gehört«, entschuldigte sich die junge Frau. Ihr Verwandter schmunzelte.
»Das kann ich ändern, wenn es dich interessiert, meine liebe Base. Obwohl beide längst tot sind, haben ihre Lehren indirekt große Wirkung auf dieses Konzil.«
Ehe er mit seiner Unterweisung begann, ließ er sich von Magdalena einen Pokal seines besten florentinischen Rotweins einschenken. Andächtig sog er dessen blumigfrischen Duft ein, ehe er den ersten Schluck versuchte. Entzückt verdrehte der Notar die Augen. Welch ein Genuss!
»Marsilius wurde um 1275 in Padua, in Oberitalien, geboren«, fuhr er schließlich fort. »Zeitweilig war er Rektor an der Universität von Paris und schrieb im Jahr 1324 die einflussreichste politische Abhandlung seiner Zeit: Defensor Pacis , das bedeutet Verteidiger des Friedens . Es war eine volle Breitseite gegen das Papsttum.«
»Oh!«, verwunderte sich die junge Apothekerin. »Wieso kann ein aufrechter Christ gegen den Papst sein? Unser Herr Jesus selbst hat Petrus als seinen Felsen bezeichnet, auf dem er seine Kirche aufbauen wolle. Was wir heute bemängeln, ist doch allein die Tatsache, dass wir gleich drei Heilige Väter zur selben Zeit verehren sollen.«
»Marsilius meinte, vom Apostel Petrus auf die päpstliche Oberherrschaft zu schließen, sei ein geschichtlicher Irrtum. Petrus habe in Wahrheit nicht mehr Autorität besessen als die übrigen Apostel. Zum Beweis führte er an, in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten sei die Autorität der römischen
Bischöfe nicht größer gewesen, als die der Bischöfe anderer Hauptstädte. Bei den ersten Konzilien hätte nicht der Papst, sondern der Kaiser den Vorsitz geführt – etwas, das übrigens auch König Sigismund wieder anstrebt.«
Erneut griff Julius Zängle nach dem Weinpokal, um seine Kehle zu befeuchten.
»Der zweite, der enormen Einfluss auf Jan Hus ausübt und dessen Ansichten das Konzil meiner Meinung nach noch stark beschäftigen werden, ist John Wyclif, geboren 1320 im englischen Yorkshire. Er lehrte Theologie in Oxford. Seine Erkenntnisse konnte er jahrelang ungehindert verbreiten, dank eines mächtigen Protektors, Herzog John of Gaunt, der die Regentschaft stellvertretend für den späteren englischen König Richard II. innehatte. Dazu kam die antiklerikale Stimmung im englischen Parlament und in gewissen Kreisen der Oberschicht. Wyclifs Lehre war folgende: Gott ist unser alleroberster Herr, ihm allein schulden wir direkte Gefolgschaft. Daher steht auch jeder Mensch zu Gott in einer direkten Beziehung, er benötigt keinen Vermittler. Der Anspruch von Kirche und Geistlichkeit, ein solcher Mittler zu sein, ist demzufolge abwegig, denn: Jeder Christ ist ein Priester und benötigt keine Weihe. Christus hat zudem weder seinen Aposteln noch ihren Nachfolgern weltliche Güter zugedacht. Kirche und Geistliche, die irdisches Gut ansammeln, leben in Sünde und können deshalb die Sakramente nicht wirksam erteilen. Daher forderte Wyclif als dringendste Reform von Kirche und Priesterschaft, den weltlichen Gütern zu entsagen.«
»Wenn Magister Hus ins gleiche Horn stößt, wird das schwere Auseinandersetzungen geben, befürchte ich.« Magdalena schüttelte zweifelnd den Kopf. »Jedes Kloster, jeder Pfaffe ist darauf bedacht, die eigene Macht zu vergrößern.
Alle trachten nach immer mehr Reichtum und Einfluss. Selbst unser frommer Stadtpfarrer von Ravensburg, Hochwürden Simon Auersberg, strebt danach, sein Vermögen stetig zu
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