Das Erbe der Apothekerin - Roman
sie bisher »übersehen« oder ihr gar den Rücken zugewandt hatten. Nun war ihr Lob in aller
Munde. Mit Hochachtung sprach man plötzlich von ihrer vorbildlichen Haltung, die sie angesichts des Verlustes ihres einzigen Sohnes gezeigt hatte.
Ja, die Ravensburger wagten es sogar, auch Worte der Anerkennung für den verstorbenen jungen Schmied, den »Bastard«, zu äußern. Wie vielen hatte er doch selbstlos geholfen. Gerade den reichen Mühlenbetreibern, die jedes Mal heimlich zu ihm hatten schicken lassen, wenn sie selbst mit ihrem Latein am Ende waren! Man redete offen darüber, was für ein grandioser Waffenschmied, Armbrusthersteller und Kanonenbauer er doch gewesen war.
Die Zunft der Schmiede, die ihm, dem »Kind der Sünde«, bis zuletzt die Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft versagt hatte, sowie die Gilde der Armbrustschützen erwogen jetzt ernsthaft, seinen Leichnam aus dem Kloster in den Bergen zurückzuholen und ihn in heimischer Erde zu bestatten, zum Dank für Gertrudes aufopferungsvolle Sorge um die Bürger Ravensburgs.
Die Hebamme, mit dem überraschenden Angebot konfrontiert, erbat sich Zeit, um es zu überdenken. Es klang in der Tat verlockend.
»Ich hätte mein einziges Kind immer in meiner Nähe«, dachte sie, ungeheuer aufgewühlt durch die Aussicht, irgendwann mit ihrem Sohn vereint im Grab zu liegen. Seufzend erhob sich die alte Frau aus einem Sessel in der Wohnstube ihres Häuschens hinter der Villa. Aus einer Truhe holte sie den herzzerreißenden Brief hervor, den das junge Mädchen ihr damals aus dem Kloster hatte zukommen lassen.
Als sie die Zeilen, die vom gewaltsamen Tod ihres Sohnes Rudolf und der Schändung Magdalenas berichteten, zum wohl hundertsten Male las, schwammen dennoch ihre Augen sogleich wieder in Tränen.
»Du Arme!«, flüsterte sie. »Deinen Liebsten hast du an eine andere Frau verloren, und dein Vetter, der vielleicht dein Herz erobert hätte, wurde dir durch Mörderhand gewaltsam entrissen. Nicht einmal deinen Sohn hat Gott, der Herr, dir gelassen! Da war ich immerhin vom Glück ein wenig mehr begünstigt: Beinahe dreißig Jahre lang durfte ich Mutter sein.«
Gertrude wischte sich die tränenblinden Augen.
Wie oft war sie verbittert, wenn sie Rudolfs Enttäuschung darüber wahrnahm, dass die Bürger seiner Heimatstadt ihn nicht anerkennen wollten. Ihr Sohn musste erst sterben, damit sie ihm den Respekt zollten, der ihm gebührte. Und auch nur, weil Gertrude sie von der schweren Krankheit geheilt hatte, die an anderen Orten so manches Opfer forderte.
Energisch wischte die alte Frau die Tränenspuren von ihren Wangen. Nur selten erlaubte sie sich so deutliche Zeichen von Schwäche. Gleich morgen würde sie mit dem Vorstand der Schmiedezunft sprechen. Rudolf sollte ruhig weiterhin in der Erde ruhen, die nun einmal seine letzte Heimat geworden war. Ein spätes Almosen hatte sie nicht nötig.
KAPITEL 40
DENKT EUCH NUR, wer bei unserem Herrn in der Stube sitzt!«, platzte Berta heraus und konnte ein verschmitztes Lächeln nicht unterdrücken. Eben war Magdalena aus der Klosterapotheke heimgekehrt. Seufzend ließ sie sich bei der Haushälterin in der Küche nieder.
»Keine Ahnung. Vielleicht der Papst?«
Auch die junge Apothekerin lachte jetzt unbekümmert.
»Dann wäre nur noch zu klären, welcher von den zwei übrig gebliebenen Heiligen Vätern meinem Vetter die Ehre erweist. «
Beide Frauen prusteten los.
Da fiel Magdalenas Blick auf Betz, der sich in eine dunkle Ecke der Küche verdrückt hatte und lustlos an einem Apfel kaute.
»Ach, Ihr seid auch schon zu Hause, Betz? Dann hat der Auftrag, den Euch Bruder Gregor erteilt hat, nicht allzu lange gedauert. Ihr solltet doch Arznei nach Gottlieben zu Papst Johannes bringen. Wie geht es ihm?«
Der Bursche brummte Unverständliches vor sich hin.
»Ich kann Euch schlecht verstehen, wenn Ihr so nuschelt. Sagt, was macht Seine Heiligkeit?«, erkundigte sich die junge Frau.
»Er sagte, er hätte gegen die Alpträume, unter denen er neuerdings leidet, das Mittel angewendet, das Ihr ihm schon früher verraten habt, nämlich nachts einen geschliffenen Amethyst unter das Kopfkissen zu legen. Er behauptet, dass es ihm hilft.«
»Das freut mich. Aber verratet mir doch: Habt Ihr schlechte Laune?«, fragte Magdalena, die sich über seine grämliche Miene wunderte, ahnungslos. Das erheiterte wiederum die Haushälterin.
»Es hängt mit dem Besuch zusammen«, erklärte sie flüsternd an die junge Frau gewandt und verdrehte
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