Das Erbe der Apothekerin - Roman
Hauptgebäude, um mit Rudolf – ebenfalls ein Frühaufsteher – das Morgenmahl einzunehmen. Beide pflegten lange ausführliche Unterhaltungen und Diskussionen zu führen, buchstäblich »über Gott und die Welt«, vor allem über die verworrenen Zeitläufte – aber an diesem Tag stand ein ganz besonderes Thema an.
»Und Ihr meint, Mutter, die Kleine meint es ernst damit, ihrem ehemaligen Bräutigam hinterherzureisen? Was verspricht sie sich davon?«
»Ich vermute, das ist ihr selbst nicht so recht klar. Wahrscheinlich will sie ihn beschämen, wenn sie sich ihm als Schwangere präsentiert, die er im Stich gelassen hat – obwohl er nichts davon wusste.«
»Nicht gerade eine sehr vernünftige Handlungsweise, oder?« Rudolf Reichle schüttelte den Kopf, ehe er sich erneut seinem Haferbrei widmete, den er großzügig mit gebräunter Butter übergossen und ein wenig Zucker – ein äußerst kostbares Nahrungsmittel, das sich nur die Reichen leisten konnten – bestreut hatte. Dazu genehmigte er sich als Frühtrunk, wie die meisten Vornehmen, angewärmten, mit Wasser vermischten Rotwein.
Die Witwe Reuchlin nickte. »Frauen in anderen Umständen tun manchmal Dinge, die mit Logik nicht viel gemein haben. Ich denke, bei Lena wird sich das wieder legen, sobald sie entbunden hat. Das Kind will sie auf jeden Fall bekommen – obwohl ich ihr angeboten habe, sie von der Bürde der ledigen Mutterschaft zu befreien. Was sagst du zu dem Ganzen, Rolf?«
Der junge Mann hob seinen Blick vom Teller und sah nachdenklich und zugleich besorgt aus.
»Ich bewundere sie für ihren Mut, Mutter, und sie tut mir von Herzen leid: Im Stich gelassen von ihrer engsten Familie, vom Vormund um ihr Erbe betrogen, vor den Klosterschergen auf der Flucht, ohne Bräutigam – und dazu noch gesegneten Leibes! Recht viel schlimmer kann es kaum noch werden!«
Er schob sein Essgeschirr beiseite. »Ich habe einen Entschluss gefasst«, erklärte er dann ruhig. Gertrude nickte. »Das ist gut, mein Sohn. Ich denke, du tust recht daran.«
Wie meistens verstanden sich die beiden auch ohne viele Worte. Die Jahre, die sie allein, im Kampf gegen den Rest der Welt, verbrachten, hatten sie dies gelehrt.
Die Heilerin, wie immer in einem schmucklosen schwarzen Kleid, erhob sich und verkündete, sie wolle nun nach der jungen Frau sehen und sie ebenfalls zu Tisch bitten.
Für die Klosterknechte von Sankt Marien am See hatte der Tag gar nicht gut begonnen. Bei ihrer Suche nach dem entlaufenen Schützling blieben sie nach wie vor erfolglos. Angeblich hatte kein Mensch das Mädchen gesehen. Die einen kannten ihren Aufenthaltsort tatsächlich nicht, und die anderen, die wohl eine gewisse Ahnung hatten, hielten den Mund, weil sie nicht auf Seiten Mauritz Scheitlins standen.
Sie gönnten es ihm vielmehr von ganzem Herzen, dass er Verdruss hatte, denn dass er ein übles Spiel mit der verwaisten Tochter Georg Scheitlins trieb, wussten alle. So mussten die Knechte, ausgesandt, die Entflohene wie eine Verbrecherin wieder einzufangen, es sogar dulden, dass die Ravensburger Bürger sie etliche Male in die Irre schickten.
Kreuz und quer ließ man die vier Burschen durch die Stadt traben; mal im Süden, mal im Norden, mal im Osten oder Westen wollten die Leute das Mädchen gesehen haben.
Als sie sämtliche Kirchen, Pfarrhäuser, Herbergen, Spitäler und Frauenklöster abgeklappert hatten, ohne auch nur die geringste Spur von Magdalena zu finden, kam dem Anführer der Gruppe ein ausgezeichneter Gedanke: »Hört zu, Freunde! Ich glaube mittlerweile, dass die Wächter am Tor sich geirrt haben und das Mädle überhaupt nicht bis nach Ravensburg gekommen ist. Ich denke viel eher, sie hat versucht, mit einem Boot über den See zu flüchten, ist dabei gekentert, ins Wasser gefallen und ums Leben gekommen!«
»Das glaube ich auch!«, sagte der Zweite.
»Kommt mir vernünftig vor!«, stimmte der Dritte zu.
Und als der Vierte sich zu einer Bekräftigung durchgerungen
hatte, schien es bereits Gewissheit: Die Jungfer Magdalena musste im »Kostritzer See« ersoffen sein. Die wenigsten Einheimischen konnten sich an den Namen »Bodensee« gewöhnen …
In seltener Einmütigkeit brachen sie ihre ergebnislose Suche ab und kehrten nach Sankt Marien zurück.
Am Stadttor hatten sie noch den Spott der Torwächter auszuhalten: »Na, ihr Helden, wo habt ihr denn jetzt eure entlaufene Klosterschwester, hä?«, »Da wird aber Freude herrschen im Konvent, wenn ihr mit leeren Händen bei
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