Das Erbe der Apothekerin - Roman
Fahrstraße. Im letzten Augenblick vermochte Ulrich, einer der Knechte, den Wagen zum Stehen zu bringen.
»Gütiger Jesus!«, rief Rolf erschrocken aus und sprang vom Wagen herunter, kaum dass die Räder zum Stillstand kamen.
»Der arme Mensch muss sofort an den Straßenrand, ehe ihn Pferde zu Tode trampeln oder Kutschenräder ihn zermalmen«, erklärte er und wies den zweiten Knecht an: »Matthis, hilf mir, den Burschen in Sicherheit zu bringen!«
Vorsichtig näherten sich die Männer dem wild um sich Schlagenden. Als das Mädchen ihnen offenbar folgen wollte, wehrte ihr Vetter vehement ab: »Du bleibst, wo du bist, Lena! Wär’ja noch schöner! Das schaffen wir grade noch allein! «
Magdalena blieb gehorsam sitzen und beobachtete den Kutscher, der die nervös gewordenen Maultiere beruhigte.
»Stell dich net so an!«, hörte sie ihren Vetter ärgerlich rufen, als der Knecht sichtlich zögerte, den Herumzappelnden bei den Beinen zu fassen. Rolf seinerseits hatte bereits die beiden Unterarme des Fallsüchtigen mit seiner rechten Hand gepackt, um die andere frei zu haben, seinen Nacken zu stützen.
»Greif ruhig fest zu«, erklärte er, um Ruhe bemüht. »Du musst bloß deinen eigenen Kopf etwas wegdrehen und aufpassen, dass dich sein Speichel nicht ins Gesicht trifft.«
Magdalena erschien das sehr vernünftig. Man wusste doch, dass ein einziges Speicheltröpfchen, das man in den Mund bekam, genügte, um selbst von der furchtbaren Krankheit befallen zu werden … Zu helfen war den Betroffenen im Sinne einer Heilung leider nicht; man konnte lediglich dafür sorgen, dass sie sich während ihres Anfalls nicht auf die Zunge bissen, und darauf achten, dass sie nicht sich selbst oder anderen wehtaten.
Die jungen Männer hoben den Fallsüchtigen auf und trugen ihn vorsichtig abseits des Fahrwegs in die Wiese. Magdalena beobachtete, wie ihr Vetter sich im Gras niederließ und den Kranken zu sich auf den Schoß zog.
Er hielt ihn dabei so eng an sich gepresst, dass er weder sich selbst noch ihn durch sein Herumschlagen mit den Armen verletzen konnte. Ununterbrochen redete Rolf leise und beruhigend auf den fremden Burschen ein, der seltsame Laute von sich gab. Seiner mit bunten Bändern verzierten Kleidung und der abseits liegenden Fiedel nach zu schließen, musste es sich um einen fahrenden Musikanten handeln.
Rolf strich ihm fortwährend über das lockige, schweißnasse Haar, während er allmählich stiller wurde und ihm nicht mehr der Schaum vor dem Mund stand. Magdalena hielt es jetzt nicht mehr auf dem Karren. Sie sprang herunter, bückte sich nach der Fiedel und lief auf die Wiese hinüber. Beim Näherkommen schien ihr Gefahr im Verzug: Die Lippen des Burschen liefen bereits bedenklich blau an.
»Halt seinen Kopf ganz fest!«, bat sie Rolf leise. »Er hat seine Zunge verschluckt, und ich muss versuchen, sie ihm aus dem Hals zu ziehen, sonst erstickt er.«
Das gewagte Unterfangen gelang erst nach mehreren Anläufen, denn der arme Mensch hielt Ober- und Unterkiefer so krampfhaft aufeinandergepresst, dass es schier unmöglich war, seinen Mund zu öffnen. Aber die Zeit drängte, denn er hatte bereits aufgehört zu atmen.
Rolf musste ihm schließlich mit Gewalt den Kiefer auseinanderdrücken, damit Magdalena nach seiner in den Rachen gerutschten Zunge fassen und sie herausziehen konnte.
»Endlich! Er atmet wieder«, sagte sie erleichtert und bemerkte erst jetzt, wie sehr ihr bleich gewordener Vetter zitterte.
Sie verstand das gut: Als sie das erste Mal erlebt hatte, wie ein Kranker in ihren Armen beinahe gestorben wäre und dann doch wieder die Augen aufschlug und um ein Glas Wasser bat, da hatte sie sich ebenfalls zwar glücklich, aber wie erschlagen gefühlt. Erst nach einer Weile war die Euphorie gekommen …
Der junge Musikant erholte sich bald darauf wieder, und sie beschlossen, ihn bis Bregenz mitzunehmen. Dann würden sich ihre Wege allerdings trennen: Der Bursche mit der Fiedel wollte nach Konstanz, und ihr Weg sollte sie weiter nach Dornbirn führen.
Ihr neuer Weggefährte, ein äußerst lustiger Geselle namens Kaspar Breunig aus der Umgebung von Ulm, revanchierte sich für ihre Hilfe mit Darbietungen von Gesang und Geigenspiel. Anfälle wie den eben erlebten erlitt er in unregelmäßigen Abständen seit seiner Kindheit, berichtete er.
»Als Gegenmittel hat mir meine Mutter auf Empfehlung des Dorfpfarrers, der mir nach einem Anfall für gewöhnlich das Evangelienbuch auf den Kopf gelegt hat, einen
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