Das Erbe der Azteken
Anzahl von Unterschieden zwischen der traditionellen Darstellung Chicomoztocs und derjenigen, die in diesem Fall vorliegt. Zuerst einmal ist am Eingang kein Hohepriester zu sehen, und die Gesichter, die man gewöhnlich in jeder der sieben Höhlen versammelt findet, fehlen ebenfalls.«
»Ich kann kaum glauben, dass mir das entgangen ist.«
»Seien Sie nicht zu streng mit sich. Während unseres Kursus haben wir uns nur am Rande mit Chicomoztoc beschäftigt. Aber lassen wir das mal beiseite – faszinierend fand ich eigentlich das, was sich im Zentrum der Höhle befindet. Ich war so frei, den Scan, den Sie mir geschickt haben, zu vergrößern.« Dydell blickte zur Seite. »Gloria, wären Sie so nett … Okay, gut, danke.« Er blickte wieder in die Kamera. »Dieses Bild ist um vierhundert Prozent vergrößert. Gloria meint, es müsste jetzt auf Ihrem Bildschirm sein. Sehen Sie es?«, fragte Dydell.
»Wir sehen es«, antwortete Sam.
»Das Erste, was Sie wahrscheinlich bemerken, ist das Lebewesen zwischen den beiden männlichen Gestalten in der Mitte der Höhle. Seine Position hebt es eindeutig als von größerer Bedeutung hervor. Die untere Hälfte gehört anscheinend zu Quetzalcoatl. Die obere Hälfte ist jedoch nur schwer zu erkennen. Es könnte so etwas wie ein Schweif, aber auch etwas völlig anderes sein.«
Sam sagte: »Eine der Gestalten steht, die andere kniet. Das muss einen Sinn haben.«
»Hat es auch. Es deutet auf Unterwerfung hin. Ist Ihnen außerdem aufgefallen, dass die Gestalt auf der rechten Seite irgendetwas in der Hand hält?«
»Es ist das im Nahuatl übliche Symbol für Feuerstein« , sagte Remi.
»Recht haben Sie. Normalerweise würde ich diese Szene als eine Opferhandlung interpretieren, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass sich die Azteken in ihrer Schriftsprache ausgesprochen metaphorisch ausdrückten. Feuerstein kann auch Trennung und den Bruch alter Verbindungen ausdrücken.
Und jetzt kommt der Clou: Auf alten, traditionellen Darstellungen von Chicomoztoc findet man zwei verschiedene Fußspuren: Eine führt in die Höhle hinein, eine führt hinaus. In Ihrer Zeichnung ist jedoch nur eine einzige Fußspur zu sehen.«
»Und die führt hinaus«, sagte Sam.
»Wenn man all das zusammennimmt – die unterwürfige Gestalt, Quetzalcoatl, den Feuerstein, die Fußabdrücke –, ergibt sich daraus, wie ich glaube, eine Zeremonie der Verbannung. Die Gestalt auf der linken Seite wurde ausgestoßen, ebenso all ihre Anhänger. Dem restlichen Kodex zufolge verließen sie Chicomoztoc, bestiegen ihre Schiffsflotte, nahmen Kurs nach Westen und landeten in Mexiko, wo sie sich zu dem entwickelten, was die Geschichte das aztekische Volk nennt.«
Remi fragte: »Professor, wissen wir, was aus Orizagas ursprünglichem Kodex geworden ist? Hat die Kirche ihn vernichtet oder in irgendeinem Archiv versteckt?«
»Weder noch, aber ich bin überzeugt, dass sie die Absicht hatten, ihn nie mehr ans Tageslicht zu holen. Im Jahr 1992 veranstaltete die Kirche eine Versteigerung alter, aber unbedeutender Artefakte – Briefe, Illustrationen und so weiter. Offenbar hatte jemand etwas durcheinandergebracht, und der Orizaga-Kodex ist beim Versteigerungsgut gelandet. Er wurde, wie ich meine, von einem mexikanischen Millionär erworben. Einem Kaffeemagnaten.«
»Wie lautete sein Name?«, fragte Sam. Dydell zögerte und überlegte. »Garza. Alfonso oder Armando – ich kann mich nicht mehr erinnern, wer es war.«
Sie unterhielten sich noch einige Minuten länger mit Dydell, dann trennten sie die Verbindung. Wie schon so oft lagen Sam und Remi auf einer Wellenlänge. Fast im Chor sagten sie zu Wendy: »Meinen Sie, Sie könnten mal versuchen, das Bild von …«
»Ich weiß … von Quetzalcoatl aufzubereiten. Bin schon dabei.«
Als Nächstes wandten sich Sam und Remi an Selma, aber sie war ihnen einen Schritt voraus, saß bereits an ihrem Computer und tippte. »Ich hab’s schon. Alfonso Garza, Vater von Cristián Garza. Zurzeit bekannt als Quauhtli Garza, Präsident von Mexiko und Vorsitzender der Mexica-Tenochca-Partei.«
Sam und Remi lächelten zufrieden. »Dort hat es angefangen«, sagte Sam. »Genauso wie Blaylock gelangte Garza in den Besitz des Kodex und wurde davon infiziert. Er hat ihn vollkommen gefangen genommen.«
Remi nickte. »Und ihn irgendwohin geführt, womit er nicht gerechnet hat.«
Eine halbe Stunde später hatte Wendy ihr Werk vollbracht. »Ich musste bei dem Ausfüllen der Lücken ein wenig die
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