Das Erbe der Azteken
kommt es schon mal vor, dass Begriffe täuschend ähnlich klingen. Ich habe es mittlerweile aufgegeben, die Leute zu korrigieren. Vor zehn Jahren schrieb ich ein Buch über das Christentum in Indonesien. Offenbar hat mich das zu einem Museum gemacht.« Marcott stand auf, ging zu einem Regal, zog ein Buch heraus und reichte es Remi.
»Gott in Java« , las sie laut den Titel vor.
»Es hätte noch schlimmer sein können. Beinahe wäre es auch dazu gekommen. Mein Verleger wollte es Jesus in Java nennen.«
Sam lachte. »Sie haben eine kluge Wahl getroffen.«
»Ich wäre von Leuten überrannt worden, die etwas über die religiöse Bedeutung von Kaffee hätten wissen wollen. Es wäre ein Alptraum geworden. Auf jeden Fall kam ich hierher, um für das Buch zu recherchieren, verliebte mich in den Ort und entschloss mich zu bleiben. Das war vor fünfzehn Jahren. Sie suchen einen Mönch, sagten Sie?«
»Ja, einen Mann namens Javier Orizaga, einen Jesuiten. Er müsste Ende 1520 hier angekommen sein, wahrscheinlich …«
»Ah, Orizaga. Fünfzehnachtundzwanzig«, sagte Marcott. »Er wohnte etwa zwei Meilen östlich von hier. Natürlich steht die Hütte nicht mehr. Ich glaube, jetzt ist es ein Burger-Restaurant.«
»Was können Sie uns über ihn erzählen?«, fragte Remi.
»Was wollen Sie wissen?«
»Wie viel Zeit haben Sie?«, konterte Sam.
»Unbegrenzt viel.«
»Dann erzählen Sie uns alles.«
»Sie werden enttäuscht sein. Er war ein interessanter Mann und arbeitete fleißig, um den Eingeborenen zu helfen, aber er war nur einer von Tausenden von Missionaren, die während des vergangenen halben Jahrtausends in dieses Land kamen. Er gründete eine Bibelschule, half in den Krankenhäusern der Umgebung und verbrachte viel Zeit in ländlichen Gemeinden, um Seelen zu retten.«
»Haben Sie jemals etwas von dem so genannten Orizaga-Kodex gehört?«, fragte Sam.
Marcott kniff die Augen zusammen. »Nein, aber wenn ich diese Bezeichnung höre, drängt sich mir der Gedanke auf, ich hätte wahrscheinlich davon hören müssen. Muss ich mich jetzt schämen?«
»Ich wüsste nicht, warum«, sagte Remi. Sie lieferte Marcott einen kurzen Abriss seiner Geschichte, verzichtete jedoch auf Details über seinen Inhalt und seine Herkunft.
Marcott lächelte. »Faszinierend. Hat dieser Kodex ihn bei der Kirche beliebt gemacht, oder war es eher umgekehrt?«
»Eher umgekehrt.«
»Dann sympathisierte er mit den Azteken. Ich wünschte, ich hätte das alles über ihn gewusst. Vielleicht hätte ich ihm dann ein ganzes Kapitel gewidmet. Es gab eine interessante Geschichte, doch die passte nicht so richtig ins Buch, daher habe ich sie weggelassen. Er starb 1556, achtundzwanzig Jahre nachdem er hierherkam – oder zumindest hat man ihn um diese Zeit zum letzten Mal gesehen.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte Remi.
»Es heißt, dass Orizaga im November dieses Jahres seinen Anhängern und Kollegen mitteilte, er habe im Urwald einen heiligen Ort entdeckt – er äußerte sich nicht, wo genau – und dass er etwas suchen wolle … Was war es noch?« Marcott hielt inne und tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Unterlippe. »O ja. Er nannte es die sieben Höhlen oder Welt der sieben Höhlen. So ähnlich hatte es gelautet. Er wanderte in den Dschungel und kam nicht mehr zurück. Soweit ich verstanden habe, hielt man Orizaga für ein wenig verrückt.«
»In dieser Richtung gibt es einige Hinweise«, sagte Sam. »Er zog also in den Dschungel und verschwand?«
Marcott nickte. »Er wurde nie mehr gesehen. Ich weiß wohl, dass es dramatisch klingt, aber selbst heute ist es nicht ungewöhnlich, wenn jemand verschwindet. Vor fünfhundert Jahren war es vermutlich alltäglich. Der Urwald hier ist erbarmungslos, sogar für jemanden, der so weitgereist ist, wie Orizaga es war.« Marcott hielt inne und lächelte betrübt. »Jetzt, da wir über diesen Mann reden, wünschte ich, ich hätte ihm und seiner Geschichte wenigstens ein paar Seiten meines Buches spendiert. Na ja.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie Ihr gesamtes Quellenmaterial über ihn noch zur Hand haben?«, fragte Remi.
»Nein, leider nicht. Aber ich habe vielleicht etwas noch Besseres. Ich kann Sie zu meiner Quelle bringen – vorausgesetzt, er ist noch am Leben, heißt das.«
Sie folgten Marcott in seinem zwanzig Jahre alten BMW zu einem anderen Wohnbezirk im Plaju-Viertel in Palembang. Hier waren die Straßen nicht befestigt, die Häuser nicht größer als sechzig Quadratmeter mit
Weitere Kostenlose Bücher