Das Erbe der Azteken
Gegenfrage.
Anstelle einer Antwort ging Remi zu einer Workstation. »Wendy hat mir ein wenig Photoshop beigebracht. Mal sehen, wie schnell ich lerne. Alle bitte für einen Moment hinsetzen. Es kann ein paar Minuten dauern.«
Da sie mit dem Oberkörper den Computermonitor abdeckte, konnte niemand sehen, was sie tat. Sam lehnte sich am Arbeitstisch auf seinem Hocker ein Stück zur Seite, um einen Blick zu erhaschen.
»Vergiss es, Fargo«, murmelte Remi.
»Verzeihung.«
Zwanzig Minuten später wandte sich Remi auf ihrem Stuhl zu den Wartenden um. »Okay. Wir alle erinnern uns an den Orizaga-Kodex, oder?«
Jeder nickte.
»Erinnert ihr euch auch noch an das Symbol auf der oberen Hälfte?«
Erneutes Kopfnicken.
»Schalten Sie den Bildschirm ein, Selma.«
»Nicht zu glauben«, sagte Selma. »Wir hatten es die ganze Zeit vor Augen. Man könnte damit zwar keine Kartografie-Preise gewinnen, aber alle wichtigen Elemente sind vorhanden. Nur zu meiner Erinnerung: Wann kamen die Madagassen in Madagaskar an?«
»Im ersten und zweiten Jahrhundert.«
»Und wann tauchten die ersten Azteken in Mexiko auf?«
»Im sechsten Jahrhundert.«
»Die Madagassen machen sich zuerst von Sulawesi aus auf den Weg, dann, ein paar Jahrhunderte später, trifft eine größere Armada – einhundert Schiffe, wenn der Orizaga-Kodex zutrifft – auf Madagaskar ein, aber sie machen dort nicht Halt. Sondern sie stoßen weiter nach Westen vor, bis sie Mexiko finden.«
»Die Reise muss Jahre gedauert haben«, sagte Pete, »allein der Marsch quer durch Afrika dürfte ein halbes Jahr oder mehr in Anspruch genommen haben. Wenn man, vorsichtig gerechnet, von einer Besatzung von acht Mann pro Auslegerboot ausgeht, dann haben wir es mit achthundert Personen zu tun.«
»Sam hat es bereits gesagt«, erwiderte Remi. »Es war der reinste Exodus.«
»Woher wissen wir, dass sie nicht die Südspitze Afrikas umschifft haben?«, fragte Wendy.
»Es gibt zwei Gründe«, sagte Remi. »Zum einen werden Sie bemerken, dass diese Region gar nicht auf der Karte erscheint; zweitens ist es zwar möglich, dass sie es versucht haben, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand in einem Auslegerboot das Kap der Guten Hoffnung umfahren kann.«
»Es ist eines der gefährlichsten Gewässer der Welt«, pflichtete Sam ihr bei. »Hier ist die Eine-Million-Dollar-Frage: Wo, meinen Sie, sollte auf Ihrer Karte das große Fragezeichen stehen?«
»Sie haben es erfasst. Indonesien ist es. Für Blaylock war es wahrscheinlich der Ort, wo er seinen Schatz zu finden glaubte. Für die Azteken war es Chicomoztoc. Als König Cuauhtemotzin Orizaga den Kodex diktierte, wollte er zeigen, woher seine Vorväter kamen. Aber nachdem die Geschichte im Laufe der Jahrhunderte mündlich von einer Generation an die nächste weitergereicht wurde, konnte Cuauhtemotzin keine genauere Schilderung liefern.«
Pete sagte: »Was ich gerne wissen würde, ist, warum sie überhaupt zu der Wanderung aufgebrochen sind.«
Diese Frage wurde zwei Stunden später zumindest teilweise beantwortet, als Remis alter Professor, Stan Dydell, bei Selma anrief und um eine Videokonferenz bat. Die Gruppe versammelte sich um den Fernsehschirm im Arbeitsraum. Dydells lächelndes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. In seiner äußeren Erscheinung war er das genaue Gegenteil von George Milhaupt: hochgewachsen, schlank, mit vollem graumeliertem Haar.
»Guten Morgen, Remi, schön, Sie wiederzusehen.«
»Und Sie auch, Professor.«
»Dieser Mann neben Ihnen ist sicherlich Sam.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Professor.« Sam stellte Pete und Wendy vor.
Dydell nickte grüßend. »Meine Sekretärin hilft mir bei all dem. Sie haben doch nichts dagegen, oder? Ich glaube, die Technologie hat mich ein wenig überholt.«
»Überhaupt nicht«, sagte Remi.
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie es kaum erwarten können, über Ihren Fund zu sprechen, daher komme ich gleich zur Sache. Da wären zuerst einmal die Fotos, die Sie geschickt haben. Das Schiff selbst ist nicht einzigartig: Kanuform, zwei Ausleger und ein einzelner Mast. Die Größe ist jedoch beeindruckend. Zweitens: Ich verrate Ihnen jetzt sicherlich nichts, was Sie nicht schon selbst in Erfahrung gebracht haben, aber das Schnitzwerk am Bugspriet sieht Quetzalcoatl, dem großen gefiederten Schlangengott der Azteken, bemerkenswert ähnlich.«
»Das war auch unsere Vermutung.«
»Wir haben schon über Quetzalcoatl gesprochen«, sagte Sam, »aber welche
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