Das Erbe der Azteken
Wellblechdächern, rohen Holzwänden und mit Moskitonetzen vor den Fenstern. Fast neben jedem Gebäude befanden sich ein kleiner Gemüsegarten und Ställe mit Hühnern oder Ziegen.
Marcott hielt vor einem der Häuser an. Sam und Remi folgten seinem Beispiel und stiegen aus. Marcott sagte: »Er spricht kein Englisch und ist über neunzig, also wundern Sie sich nicht.«
»Wen lernen wir da kennen?«
»Oh, Entschuldigung. Dumadi Orizaga. Vor seinem Tod hatte Javier zehn Kinder mit einer Einheimischen. Dumadi ist ein direkter Nachkomme Orizagas.«
»Ich dachte, er sei Jesuit gewesen«, staunte Remi.
»Das war er auch, aber irgendwann widerrief er sein Gelübde als Geistlicher – offensichtlich auch das Gebot des Zölibats.«
»Vielleicht wegen seines Streits mit der Kirche«, vermutete Sam.
Sie gingen hinter Marcott über einen schmalen Weg zu einer Fliegentür aus Kanthölzern und einem schadhaften Moskitonetz. Nachdem Marcott das vierte Mal mit der Faust gegen den Türpfosten geschlagen hatte, kam ein alter Mann schlurfend in Sicht, der mit einem weißen Unterhemd bekleidet war. Er war kaum größer als einen Meter fünfzig, und seine Gesichtszüge verrieten seine indonesischen und spanischen Vorfahren.
Marcott sagte auf Indonesisch oder in einem seiner Dialekte etwas zu Dumadi. Der alte Mann lächelte, nickte und stieß die Tür auf. Die drei Besucher traten ein. Das Innere des Hauses war dreigeteilt: ein sechs mal sechs Meter großer Wohnbereich mit vier Plastikgartenstühlen und einem Pappkarton als Couchtisch, zwei Nebenräume, einer davon war ein kombiniertes Schlaf- und Badezimmer, der andere eine kleine Küche. Dumadi bedeutete ihnen gestenreich, Platz zu nehmen.
Marcott spielte weiter den Dolmetscher, stellte Sam und Remi vor und erklärte dann, sie seien nach Palembang gekommen, um mehr über Orizaga zu erfahren. Darauf sagte Dumadi etwas.
»Er möchte wissen, weshalb Sie sich für ihn interessieren«, übersetzte Marcott. »Sie sind hier sehr zurückhaltend, was ihre Familie betrifft, auch nach fünfhundert Jahren noch. Die Ahnenverehrung ist für Indonesier eine tief verwurzelte Tradition.«
Sam und Remi sahen einander ein wenig ratlos an. Da sie niemals auch nur entfernt daran gedacht hatten, direkte Nachkommen Orizagas aufzustöbern, hatten sie nie überlegt, wie sie ihre Mission erklären sollten.
»Sagen wir ihm einfach die Wahrheit«, schlug Sam vor. »Wenn der Kodex irgendjemandem gehört, dann wohl am ehesten ihm.«
Remi nickte, griff in ihre Reisetasche und holte einen großen Briefumschlag heraus. Sie blätterte die Fotos und Papiere durch, die sich darin befanden, dann holte sie den gescannten Kodex hervor und reichte ihn Dumadi.
Sam sagte zu Marcott: »Erklären Sie ihm bitte, dass dies Orizaga gehörte und dass wir annehmen, es könnte etwas damit zu tun haben, weshalb er überhaupt hierhergekommen ist.«
Marcott dolmetschte. Dumadi betrachtete das Dokument, aber Sam und Remi erkannten, dass der alte Mann Marcotts Worte kaum gehört hatte. Schließlich sagte Marcott etwas anderes zu Dumadi, der daraufhin den Scan auf den Pappkarton legte, sich mühsam erhob und in sein Schlafzimmer schlurfte. Einen Moment später kam er mit einem Bilderrahmen zurück. Er blieb vor Remi stehen und reichte ihn ihr.
Kunstvoll kalligrafiert und mit sorgfältig verschachtelten Girlanden und Schnörkeln verziert, sah das Original völlig anders aus als das Foto, aber für Sam und Remi bestand kein Zweifel, dass sie die Bildkarte von Orizagas Kodex vor sich hatten.
Dumadi deutete zuerst auf das gerahmte Foto. Dann auf die gescannte Darstellung und sagte etwas zu Marcott. Dieser übersetzte: »Den unteren Teil kennt er nicht, aber der obere Teil begleitet seine Familie seit Jahrhunderten.«
»Weshalb?«, fragte Sam.
Marcott gab die Frage weiter, hörte sich Dumadis Antwort an und meinte dann: »Das ist das Familienwappen der Orizagas.«
»Weiß er, was es bedeutet?«
»Nein.«
»Hat sich bisher noch niemand dazu geäußert und eine Deutung versucht?«
»Nein«, erwiderte Marcott. »Er sagt, es sei stets ein Teil der Familie gewesen. Er nimmt an, dass es für Orizaga wichtig war, darum hat er es in Ehren gehalten.«
Sam kramte in Remis Briefumschlag und holte Wendys Version des Quetzalcoatl-Vogels von der Chicomoztoc-Illustration hervor. Er legte ihn vor Dumadi auf den Couchtisch-Karton. »Hat dies irgendeine Bedeutung für ihn?«
Marcott fragte und lauschte. Dann fragte er lächelnd: »Welches
Weitere Kostenlose Bücher