Das Erbe der Azteken
Kabine des Yulin. Die Motoren des Kanonenbootes rumpelten, die Matrosen stießen ab, und das Kanonenboot schwang herum und entfernte sich nach Westen in Richtung Kanal. Sam machte zwei lange Schritte, tauchte in die Kajüte und kam mit einem Fernglas zurück. Er setzte es an die Augen und richtete es auf das Yulin-Boot. Nach zwanzig Sekunden ließ er es wieder sinken.
»Was ist?«, wollte Remi wissen.
»Da war jemand in der Kabine und gab die Befehle.«
»Das Klopfen ans Fenster?«, sagte Remi. »Konntest du ihn sehen?«
Sam nickte. »Nicht schwarz und nicht in Uniform. Er sah südländisch aus – Spanier oder Italiener. Schlank, Hakennase, buschige Augenbrauen.«
»Welcher Nicht-Tansanier könnte so viel Macht haben, um ein Küstenwachboot und seine Mannschaft herumzukommandieren?«
»Jemand mit einer Menge Geld in den Taschen.« Sosehr sie Tansania und Sansibar und die Bevölkerung auch liebten, sie leugneten doch nicht, dass hier Korruption an der Tagesordnung war. Die meisten Tansanier verdienten sich ein paar Dollar nebenbei; das Militär etwas mehr. »Wir sollten keine übereilten Schlüsse ziehen. Im Augenblick wissen wir gar nichts. Nur aus Neugier, Remi: Warum hast du wegen der Münze gelogen?«
»Reines Bauchgefühl«, erwiderte Remi. »Ich dachte, es sei besser …«
»Nein. Ich hatte den gleichen Instinkt. Die tansanische Küstenwache besitzt zwei Yulin-Kanonenboote, um die Küste, den Kanal und Sansibar zu überwachen. Ich hatte sehr den Eindruck, dass sie ganz gezielt nach uns Ausschau gehalten haben.«
»Ich auch.«
»Und was Sicherheitskontrollen betrifft, so war diese völlig wertlos. Sie haben nicht nach Schwimmwesten oder nach einem Funkgerät gefragt und sich nicht einmal für unsere Taucherausrüstung interessiert.«
»Und wann haben wir das letzte Mal einen tansanischen Behördenvertreter getroffen, der nicht ausnehmend freundlich war?«
»Eigentlich niemals«, erwiderte Sam. »Was die Adelise-Münze angeht …«
Remi öffnete den Reißverschluss einer Seitentasche ihrer Tauchershorts, holte die Münze hervor und hielt sie grinsend hoch.
»So liebe ich dich«, sagte Sam.
»Meinst du, sie durchsuchen den Bungalow?«
Sam zuckte die Achseln.
»Wenn wir alles zusammennehmen, was hat das zu bedeuten?«, dachte Remi laut nach.
»Keine Ahnung, aber wir sollten von jetzt an ein wenig vorsichtiger sein.«
5
Sansibar
Während der nächsten Stunde saßen sie auf dem Achterdeck, tranken Eiswasser, genossen das sanfte Schaukeln des Andreyale-Bootes und lauschten dem leisen Plätschern der Wellen gegen den Bootsrumpf. In den ersten dreißig Minuten nach seinem Abdampfen erschien das Yulin-Boot noch zwei Mal, eine Meile weit entfernt. Einmal zog es von Norden nach Süden, das zweite Mal von Süden nach Norden. Danach war es nicht mehr aufgetaucht.
»Ich muss ständig daran denken, dass die Glocke vielleicht in den Abgrund gestürzt ist«, sagte Remi. »Ich kann es geradezu vor meinem geistigen Auge sehen.«
»Ich auch, aber ich gehe lieber dieses Risiko ein, als sie hier wieder auftauchen zu sehen, während wir gerade dabei sind, die Glocke zu bergen. Lass uns noch mal zwanzig Minuten warten. Schlimmstenfalls wird es um einiges mühsamer, an die Glocke heranzukommen.«
»Das stimmt schon, aber bei dreißig Meter wird es sogar ziemlich schwierig. In diese Tiefe vorzudringen, muss zwar gar nicht so schwer sein. Aber sie wiederzufinden, könnte problematisch werden.« So schwer die Glocke auch war, nach einem Sturz einen dreißig Meter hohen Abhang hinunter konnte sie überall gelandet sein, ähnlich wie die Glasmurmel eines Kindes, die im Esszimmer zu Boden fällt und am Ende unter dem Kühlschrank in der Küche liegen bleibt. »Und sobald wir sie gefunden haben, ergibt sich das Problem, sie nach oben zu schaffen. Dann brauchen wir eine bessere Taucherausrüstung, einen Kompressor, Hebesäcke, eine Winde …«
Sam nickte. Ein derartiges Ausmaß an Aktivität vor neugierigen oder wachsamen Augen zu verbergen, wäre unmöglich. Die Ausrüstung in Stone Town zu mieten – auch wenn es anonym geschähe – würde die Gerüchteküche sofort in Gang setzen. Am Ende des Tages hätten sie es mit einem Heer von Zuschauern zu tun, sowohl am Ufer als auch auf Booten vor der Küste – darunter wäre vielleicht auch das Yulin-Kanonenboot und sein geheimnisvoller Passagier.
»Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt«, sagte er.
Sie lenkten das Andreyale bis auf zehn Meter an die Position der Glocke
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