Das Erbe der Azteken
kennen Sie und Julianne einander?«
»Ich versuche jedes Jahr, einmal nach Washington zu kommen. Ich liebe die Geschichte der Stadt. Vor fünf Jahren habe ich Miss Julianne während einer Stadtrundfahrt kennengelernt. Ich vermute, sie fand meine lästigen Fragen ganz liebenswert, daher blieben wir in Kontakt. Immer wenn ich ein neues Stück finde, das ich nicht einordnen kann, bitte ich sie um Hilfe. Sie war hier schon öfter zu Besuch. Entschuldigen Sie mich für einen Moment. Ich muss nach dem Tee sehen.« Sie verschwand durch eine andere Tür und kehrte zwei Minuten später zurück. »Er zieht jetzt. Während wir warten, kann ich Ihnen zeigen, weshalb Sie hergekommen sind.«
Sie geleitete sie aus dem Salon, durch das Foyer, einen kurzen Korridor hinunter und durch eine Tür in einen großen sonnenscheindurchfluteten, schneeweiß gestrichenen Raum.
»Willkommen in Miss Cynthias Museum und Galerie«, sagte sie.
In vieler Hinsicht – und genauso wie in Mortons Museum und Souvenir Shop in Bagamoyo – war hier eine Vielzahl von Artefakten zusammengetragen worden, die allesamt mit dem Bürgerkrieg verbunden waren. Von Musketenkugeln und Gewehren bis hin zu Uniformaufnähern und Daguerreotypien.
»All das habe ich eigenhändig gesammelt«, sagte Miss Cynthia voller Stolz. »Auf Schlachtfeldern, bei Garagenverkäufen und auf Flohmärkten … Sie würden sich wundern, was man alles finden kann, wenn man weiß, wonach man sucht. Du liebe Güte, das klang jetzt sehr weise, nicht wahr?«
Sam und Remi lachten amüsiert. Remi sagte: »Sie haben recht.«
»Solche Gedanken gehen einem häufiger durch den Kopf, wenn man älter wird. Na ja, Sie können sich später noch in aller Ruhe umschauen, aber vorher möchte ich Ihnen dies hier zeigen.«
Miss Cynthia ging zur nördlichen Wand des Raums, die vom Fußboden bis zur Decke mit gerahmten Fotos und Zeichnungen bedeckt war. Sie blieb davor stehen, biss sich auf die Unterlippe, während ihre Blicke suchend hin und her wanderten.
»Ah, da bist du ja.«
Sie humpelte zur Ecke, griff nach oben und nahm ein zehn mal fünfzehn Zentimeter großes Bild in einem schwarzen Rahmen von der Wand. Dann kam sie zurück und reichte es Sam.
Eine stark gekörnte Daguerreotypie zeigte ein vor Anker liegendes Holzschiff mit drei Masten.
»Mein Gott«, flüsterte Remi. »Das ist sie.«
»Remi, sieh dir das mal an.« Sam hielt das Bild dicht vor ihrer beider Augen.
In der unteren rechten Ecke war ein einzelnes Wort zu lesen, mit verblasster Tinte geschrieben: Ophelia.
Fünf Minuten später im Salon, die Teetassen in der Hand, starrten sie noch immer völlig verblüfft auf die Fotografie. Sam sagte: »Wie haben Sie …? Und wo …?«
»Diese Julianne hat ein tolles Gedächtnis – ich glaube, man nennt es eidetisch.«
»Fotografisches Gedächtnis.«
»Ja. Sie hat Stunden in meinem Museum verbracht. Heute Morgen hat sie mir eine Bleistiftzeichnung mit der E-Mail oder wie das heißt geschickt und mich gebeten, sie mit meiner hier zu vergleichen. Ich nehme an, es war Ihre Zeichnung.«
»Irgendetwas sagt mir, dass sie eher Ihnen als uns gehört«, erwiderte Remi.
Miss Cynthia winkte lächelnd ab. »Ich habe Julianne erklärt, die beiden könnten trotz der unterschiedlichen Medien Zwillinge sein. Bis hin zur Inschrift.«
»Ophelia.«
»Ja. Leider wussten wir nie sehr viel über sie.«
»Wie bitte?«, sagte Sam.
»Entschuldigen Sie, ich greife ein wenig voraus. Immer der Reihe nach. Sehen Sie, William Lynd Blaylock war mein Ur-Ur-Ur … ich weiß nicht wie viele Ur’s es sind, aber er war mein Onkel.«
Miss Cynthia lächelte freundlich und trank einen Schluck Tee.
Sam und Remi wechselten erstaunte Blicke. Remi runzelte die Stirn, überlegte und fragte dann: »Sie sind eine Blaylock?«
»O nein, nein. Ich bin eine Ashworth. Das war auch Ophelia, ehe sie William heiratete. Nachdem meine Tante Ophelia getötet wurde, blieb meine Ur-Ur … meine Großmutter Constance mit William in Verbindung. Es war natürlich niemals mehr als eine Freundschaft, aber ich vermute, ein wenig Zuneigung war auch dabei. Er schrieb ihr oft, fing damit einige Monate nach seiner Rückkehr nach England an und behielt es bis zum Ende bei. Das war um 1883, glaube ich.«
»Bis zum Ende?«, fragte Sam. »Sie meinen seinen Tod?«
»Oh, das weiß ich nicht. Eigentlich weiß niemand, was aus ihm geworden ist. Ich rede nur von dem letzten Brief, den er Großmutter Constance geschickt hat.« Miss Cynthias Augen
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