Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
erbärmliches Dasein. Dagegen konnten sich die Aussätzigen fast glücklich schätzen: Die Leprakranken, die außerhalb von Köln im Siechenhaus Melaten lebten, waren meist noch gut zu Fuß. Vor hohen Festtagen durften sie in die Stadt kommen und um Geld für ihren Lebensunterhalt betteln. Sie schwenkten ihre rasselnde Klapper, als Warnung vor der Krankheit und zugleich zum Zeichen ihrer Bedürftigkeit, und ihnen wurde stets reichlich gegeben. Etliche von ihnen kamen unter Verstoß gegen die Vorschriften auch an anderen als den festgelegten Betteltagen in die Stadt und mehrten damit ihre Einkünfte zusätzlich. Mittlerweile waren die Plätze in Melaten so begehrt, dass sich manch bitterarmer Bettler absichtlich bei einem Aussätzigen ansteckte, weil er dann dort aufgenommen werden musste. Sogar gesunde Menschen gingen bereits dazu über, sich für ihr Alter einen Platz in Melaten zu erkaufen, wobei die Sorge um eine Ansteckung sie kaum schreckte. Lieber wollten sie unter Leprösen leben als in einem städtischen Pflegehospital.
Juliana kämmte die Frau und flocht ihr das Haar, was zum Glück ohne weiteres Lamento vonstattenging. Anschließend flößte sie der Kranken den Kräutertrunk ein, den Hildegund in der Zwischenzeit zubereitet hatte, dann legte sie ihr einen warmen, mit einem Tuch umwickelten Backstein ans Fußende des Bettes. Gemeinsam mit Hildegund räumte sie hinterher die Stube auf. Sie fegten den Kamin und schichteten neues Brennholz darin auf, reinigten den Kochkessel, streuten frische Binsen auf den Boden und schlossen die Fensterläden wieder, die sie zum Lüften geöffnet hatten. Damit war ihre Arbeit in diesem Haus getan. Als Juliana noch ein letztes Mal in die Schlafkammer zurückging, um sich von der Frau zu verabschieden, lag die Gestalt im Bett reglos da. Ein Arm baumelte schlaff herunter, und die Augen blickten starr an die Decke. Das Gesicht wirkte beinahe ungläubig, als sei es kaum zu fassen, dass der Tod so plötzlich gekommen war.
Hildegund betrat die Kammer und sah, was geschehen war. »Auch das noch«, meinte sie empört. »Die ganze Arbeit umsonst!«
»Versuch einfach, das Gute daran zu sehen«, sagte Juliana sarkastisch. »Du musst nicht mehr herkommen.«
Hildegunds Miene hellte sich auf. »Da hast du auch wieder recht!«
Juliana widerstand dem Drang, sie zu ohrfeigen. Stattdessen senkte sie den Kopf, bekreuzigte sich und erbat für die Tote Gottes Segen.
Eine Woche später, 10. Februar
Johann stand halb verdeckt hinter dem Stamm einer dicken Eiche. Der Geruch nach Moos und nasser Borke stieg ihm in die Nase, während er reglos verharrte und die Augen auf sein Ziel heftete. Die Armbrust war straff gespannt, die Sehne bis zum Äußersten gedehnt. Die Spitze des Bolzens zeigte auf die Bache, die sich ein wenig von der Rotte abgesondert hatte und am Rande der Lichtung im Waldboden nach Bucheckern, Eicheln und Maden wühlte. Es war ein junges Tier, bereits ohne die hellen Frischlingsstreifen, aber noch nicht ganz ausgewachsen.
Eine der älteren Bachen hob witternd den Kopf, und Johann, der seit einer Stunde wie festgewachsen hinter dem Baum stand und auf das Auftauchen der Rotte gewartet hatte, zögerte nicht länger. Der Bolzen schnellte davon, quer über die Lichtung auf das anvisierte Ziel zu. Und er traf genau. Das Wildschwein wurde von der Wucht des einschlagenden Bolzens ein paar Schritte weit fortgeschleudert. Die übrige Rotte brach zur anderen Seite der Lichtung hin aus und verschwand blitzartig im Unterholz.
Johann ging zu der erlegten Beute und zog den Bolzen heraus, bevor er das Tier in den mitgebrachten Sack schob und sich auf den Rückweg machte. Das Gewicht über seiner Schulter fühlte sich gut an, sie würden mindestens drei Tage satt zu essen haben.
Veit saß im Eingang der Höhle beim Feuer, das Schaffell fest um die Schultern gezogen, das Gesicht wachsam in die Richtung gewandt, aus der Johann sich näherte.
»Ich bin’s«, rief Johann. Er sah, wie Veit sich entspannte.
»Es gibt Fleisch.« Er ließ die geschulterte Last auf den Waldboden fallen, zog das Wildschwein aus dem Sack und häutete es mit raschen Schnitten. Er teilte ein paar Stücke aus dem noch dampfenden Fleisch und steckte sie auf einen Spieß, den er auf zwei gegabelten Ästen über das Feuer hängte.
Veit blinzelte in seine Richtung. Seine Augen waren blau wie der Himmel im Sommer, ganz genau wie früher, vor jener verhängnisvollen Schlacht im Heiligen Land. Manchmal rätselte Johann immer
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