Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
Bessergestellten in den Himmel.
Johann legte den neuen Umhang und die Gugel an und machte sich sofort auf den Weg.
Er begab sich auf direktem Wege zu Sankt Maria ad gradus. Von der benachbarten Dombaustelle lärmten die Hämmer und Sägen, untermalt vom Quietschen der Winden. Aus der angrenzenden Trankgasse ertönte das Gerumpel der Lastkarren, die mit Steinen und Balken zur Baustelle rollten.
Auf dem großen, zum Rhein gelegenen Vorplatz von Sankt Maria ad gradus, der sich bis zur Stadtmauer erstreckte, hielt Johann nach Veit Ausschau und fand ihn inmitten einer Gruppe von Bettlern, Tagedieben und Winkeldirnen, die auf den Stufen vor der Kirchenpforte in der Sonne hockten. Sofort reckten sich ihm Hände entgegen, und Bitten um Almosen wurden laut. Eine der Huren fasste ihm ganz ungeniert in den Schritt. »Wie wäre es mit uns beiden, mein Schöner?«
Er streifte ihre Hand ab und drängte sich an zwei Krüppeln vorbei, die auf der Stufe hinter der Frau saßen. Dem einen fehlte ein Bein, der andere hatte dort, wo früher sein Gesicht gewesen war, nur noch eine vernarbte Fratze mit Löchern, Folgen einer schweren Brandverletzung.
Veit saß hinter dem Einbeinigen, er hatte sich aufgerichtet und ihm das Gesicht zugewandt, als ahne er, wen er vor sich hatte.
Johann legte ihm die Hand auf die Schulter. »Veit.«
»Gott im Himmel. Johann.« Veit atmete tief ein. In seinem Gesicht arbeitete es, er versuchte, sich zu beherrschen, doch es gelang ihm nicht. Tränen traten ihm in die Augen und rannen über seine Wangen. Er hob die Hand, um sie wegzuwischen, doch seine Schultern bebten. Johann zog ihn hoch und umschlang ihn. Als er spürte, wie dünn der Freund geworden war, erfasste ihn Zorn. »Du hättest das verdammte Geld nehmen sollen«, murmelte er in Veits Ohr.
»Warum? Ich bin doch auch so zurechtgekommen.«
»Lügner.« Johann seufzte, dann schob er den Freund ein wenig von sich weg und betrachtete ihn aufmerksam. Die Spuren der Entbehrung waren nicht zu übersehen. Veits Augen waren blutunterlaufen, die Züge ausgezehrt. Um den Armstumpf war ein schmutziges Lumpenstück gewickelt. Johann wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie es darunter aussah. Veits Kleidung war im hellen Tageslicht erbärmlich fadenscheinig und der Witterung alles andere als angemessen.
»Wo sind deine Joppe und das Bärenfell?«, fragte Johann.
»Irgendein armer Teufel hat mir beides gestohlen, erst gestern. Aber es wird ja nun Frühling, da kann ich es eher entbehren.«
»Komm.« Johann zog Veit mit sich. Ungeduldig wehrte er die grapschenden Hände ab und ignorierte das Gebettel und die anzüglichen Bemerkungen der anderen.
»Nimm lieber mich«, rief einer der Bettler. »Ich habe noch zwei gesunde Hände!«
Grölendes Gelächter begleitete seine Worte.
Johann führte Veit weg von der Kirche, quer über den Platz hinüber zur Trankgasse und weiter in Richtung Rhein. Sie passierten das Stadttor am Ende der Straße und traten hinaus auf den Kai, wo sie die laute Geschäftigkeit des Hafens umfing. Das Geschrei der Arbeiter schallte über das Ufer und bildete mit dem Knattern der Segel, dem Krach der vorbeirollenden Fuhrwerke und dem steten Rauschen des Flusses eine auf- und abschwellende Geräuschkulisse. Es roch nach Fisch und Teer und fauligen Abfällen.
Johann dirigierte Veit zu einem am Ufer liegenden umgedrehten Kahn. Sie setzten sich auf den Kiel und wandten ihre Gesichter der Sonne zu. Johann zog den Rosinenwecken, den er unterwegs gekauft hatte, aus der Tasche und reichte ihn Veit. »Hier, iss.«
Veit fackelte nicht lange, sofort schlang er den Wecken herunter und seufzte anschließend zufrieden. »Das tat gut. Danke.«
Eine Weile blieben sie stumm sitzen, sie genossen es einfach nur, dass sie wieder zueinandergefunden hatten. Beide waren sie dem Tod von der Schippe gesprungen, wieder einmal.
»Erzähl«, brach Johann schließlich das Schweigen.
»Viel zu erzählen gibt es nicht. Ich habe drei Tage im Wald gewartet. Dann habe ich unsere Essensvorräte eingepackt und bin losmarschiert, immer der Sonne nach. Ein paarmal habe ich mich verlaufen, was daran lag, dass die Sonne sich ziemlich oft hinter den Wolken versteckte. Aber irgendwann habe ich den Fluss erreicht. Ein paar mitleidige Fischer haben mich mitgenommen, und da bin ich jetzt.«
»Du hättest dir was von dem verfluchten Geld einstecken sollen, dann hättest du wenigstens satt zu essen gehabt!«
»Das hätten sie mir nur gestohlen«, sagte Veit
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