Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
ihn dazu brachten, sich stumm, aber heftig für sein Verhalten zu verfluchen. Nicht nur für ihn war dieses Zusammentreffen unerfreulich und bedrückend gewesen, Blithildis musste es ungleich schlimmer erlebt haben, denn bei ihr war die Angst dazugekommen. Die Angst vor der Erinnerung, die Angst vor der Vergangenheit. Vor denen, die dafür verantwortlich waren, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte.
Langsam, wie ein alter Mann, umfasste Johann den Handgriff der Deichsel und zog den Karren hinter sich her. Die Räder rumpelten über den unebenen Gassenboden. Ein streunender Hund trottete vorbei. Aus einem der benachbarten Häuser kam ein bezopftes kleines Mädchen, das eine Rückenkiepe mit frisch gebackenem Brot trug. Eine alte Frau bog um die Ecke, einen Korb auf der Hüfte, in dem ein Kohlkopf und Steckrüben lagen. Ihr graues Haar hing in zottigen Strähnen aus dem Gebende heraus, ihr Gewand war zu lang, es schleifte am Boden. Im Vorbeigehen bedachte sie ihn mit misstrauischen Blicken, und er bemerkte, dass er sie angestarrt hatte, ebenso wie zuvor den Hund und das Mädchen, jedoch ohne sie richtig wahrzunehmen. Rasch schaute er zur anderen Gassenseite, doch auch dort gewahrte er nur die banale Alltäglichkeit seiner Umgebung, die bei aller soliden Fassbarkeit nicht annährend so prägnant war wie das Bild, das in seinem Kopf zurückgeblieben war: Blithildis, die ihn angstvoll anblickte und vor ihm floh.
Als er an der Mauer des Konvents vorbeikam, öffnete sich das Tor und eine ältere Frau erschien. Sie mochte um die sechzig sein, doch ihre Haltung war aufrecht und straff und ihr Blick lebhaft. Wie Blithildis trug sie die schlichte, graue Tracht der Beginen. Ihr Gesicht unter der strengen Haube war besorgt, sie musterte Johann fragend. Da sie offensichtlich mit ihm sprechen wollte, blieb er stehen. Höflich neigte er den Kopf. »Suora.«
»Wer seid Ihr? Was habt Ihr mit Juliana zu schaffen? Stimmt es, was Hildegund eben gesagt hat?«
»Mein Name ist Johann von Bergerhausen. Die Frau, die Ihr als Juliana kennt, ist meine Schwester Blithildis.«
Sie starrte ihn an, suchte in seinen Gesichtszügen nach Ähnlichkeiten. Oder nach Anzeichen dafür, dass er log.
Schließlich meinte sie langsam. »Juliana. Sie hat diesen Namen gewählt, und dabei wollen wir bleiben, wenn wir über sie reden.«
Über sie reden . Diese Worte weckten eine verzweifelte Hoffnung in Johann. Über sie zu reden bedeutete, mehr über sie zu erfahren. Ihr vielleicht doch noch – auf welche Weise auch immer – näherzukommen. Die gemeinsame Vergangenheit wiederzufinden.
Er nickte stumm und abwartend.
»Es geht ihr nicht gut«, fuhr die Begine fort. Sie verschränkte die Hände in einer Geste, die ihre Anspannung zum Ausdruck brachte. »Die Begegnung mit Euch hat sie sehr aufgewühlt.«
»Offenbar hat sie große Angst vor der Vergangenheit«, stimmte Johann zu. Er drang sofort zur wichtigsten seiner Fragen vor. »Was ist mit ihr passiert? Warum kann sie sich nicht erinnern?«
Etwas an seinem Gesichtsausdruck musste die Begine davon überzeugt haben, dass er nichts Böses im Schilde führte, doch ihr Misstrauen war noch nicht völlig ausgeräumt.
»Erzählt mir zunächst, wer Ihr seid und woher Ihr stammt.«
»Meinen Namen sagte ich Euch schon. Mein Vater hieß Martin, meine Mutter Barbara. Blithildis und ich sind ihre einzigen überlebenden Abkömmlinge, unsere anderen Geschwister starben im Kleinkindalter. Mein Vater war Gewürzhändler und ein anerkanntes, weithin geachtetes Mitglied der Richerzeche. Wir lebten in einem Haus in der Rheingasse. Dann zog mein Vater als Gefolgsmann des Erzbischofs mit diesem in eine Schlacht, und es fügte sich, dass er ihm das Leben rettete. Konrad von Hochstaden war vom Pferd gefallen, und einer seiner Feinde holte bereits mit dem Schwert aus. Mein Vater konnte unter Einsatz seines eigenen Lebens gerade noch verhindern, dass der Erzbischof seinen Kopf verlor. Dafür war ihm die Dankbarkeit Konrads gewiss. Er wurde mit der Ritterwürde sowie einer Lehnsburg bedacht. Die unserer Familie allerdings später wieder abhandenkam.« Abermals verzog er das Gesicht, diesmal in offener Verachtung. »Doch ich will nicht abschweifen. Als ich mit meinen Eltern und Blithildis auf jene Burg zog, war sie acht und ich zehn Jahre alt. Ich lebte nicht lange dort, nur einige Monate. Danach kam ich auf eine andere Burg, wo ich zum Ritter ausgebildet wurde. Mit fünfzehn zog ich in den Krieg, zusammen mit dem Ritter,
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