Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
schälender Haut. Augustinus, Benedikt, Thomas von Aquin oder wie immer all die Verfasser der abgegriffenen Traktate heißen mochten. Hatte er diese Tortur nicht schon in Straßburg hinter sich gebracht, wo er nicht nur die dem Rat unterstellte Schreib- und Rechenschule besucht hatte, sondern außerdem noch die grässliche Lateinschule über sich hatte ergehen lassen müssen?! Mit Grausen erinnerte er sich an die Prügel, die er jedes Mal bezogen hatte, wenn er dabei erwischt worden war, wie er sich mit den anderen Jungen in seiner Muttersprache unterhalten hatte, anstatt Latein zu sprechen.
Ein wehmütiges Schmunzeln stahl sich auf sein Gesicht. Hätte er nur damals schon gewusst, warum sein Ziehvater ihm diese zusätzliche Last aufgebürdet hatte! Dann hätte er seine Lektionen weniger widerstrebend gelernt und nicht tagein, tagaus gefragt, warum die anderen Handwerkersöhne nur Lesen und Rechnen lernen mussten. Er lachte leise, als er sich daran erinnerte, wie er dem Steinmetz in den Ohren gelegen hatte, ihn lieber mit auf die Baustelle zu nehmen, als ihn zu den Mönchen zu schicken, die in ihrer schwarzen Tracht ausgesehen hatten wie riesige Aasvögel.
»Bitte, Vater«, hatte er gejammert. »Ich kann mir all diese Wortformen einfach nicht merken! Warum reicht es nicht, dass ich rechnen kann? Wozu muss ein Steinmetz Latein sprechen können?«
Als Antwort hatte sein Ziehvater ihm liebevoll den Schopf zerzaust und war vor ihm in die Hocke gegangen. »Weil du niemals weißt, was das Leben für dich bereithält«, hatte er unkenhaft festgestellt und Wulf versprochen, ihm ein Bruchstück eines der kostbaren Marmorblöcke mitzubringen, welche die Kirchenbauer für die schlanken Säulen verwendeten. Noch immer erinnerte Wulf sich an den makellosen weißen, unglaublich glatten Stein, den ein feines Netzwerk von blauen Adern durchzogen hatte.
Ein enges Gefühl in der Brust ließ ihn die Zähne aufeinanderbeißen. Wenn er die Dinge, die er im Zorn gesagt hatte, doch nur zurücknehmen könnte! Er seufzte. Warum hatte er nicht gewartet, bis sein Ärger verraucht war, bevor er dem Haus den Rücken gekehrt hatte, in dem er achtzehn Jahre seines Lebens glücklich zugebracht hatte?
Erst jetzt verstand er, dass der Steinmetz alles unternommen hatte, um ihm eine Erziehung angedeihen zu lassen, die für die Söhne der Adeligen die Regel darstellte. Wie ungerecht er zu seinen Zieheltern gewesen war. Die Beklemmung verstärkte sich, als sich weitere Bilder aus seiner Vergangenheit in den Vordergrund drängten. Wenn er doch nur die Zeit zurückdrehen könnte, um die Unschuld wiederzugewinnen, die ihn als Kind fest darauf hatte vertrauen lassen, dass alles, was sein Vater tat, richtig und gut war. Er presste die Handflächen auf sein glühendes Gesicht und atmete tief durch. Es hatte keinen Zweck! Er musste aufhören, sich zu quälen. Die Dinge waren nun einmal nicht schwarz oder weiß, gut oder schlecht, so viel hatte er in den vergangenen Monaten gelernt. Früher oder später würde sich ein Weg auftun, der es ihm ermöglichte, die begangenen Fehler wiedergutzumachen.
Mit einem energischen Schnaufen schulterte er seine schwere Ausrüstung und trottete – unter der Last schwankend – auf die Burg zu. Dort lieferte er Waffen und Rüstung in der Waffenkammer ab, um sie später zu reinigen und zu ölen. Auch wenn er wie all die anderen Male auch heute vermutlich nichts Neues von Pater Ignatius lernen würde, würde ihn der Unterricht eine Weile von seinen düsteren Gedanken ablenken. Mit gesenktem Kopf drückte er sich an Knechten, Stallburschen und Mägden vorbei, durchquerte den Zwinger und erklomm die hölzerne Treppe, an deren Ende er nach rechts abbog. Wenige Schritte führten ihn an der Kapelle vorbei ins erste Obergeschoss, wo die leiernden Stimmen der anderen verkündeten, dass der Unterricht bereits in vollem Gange war. Wahrscheinlich steckten sie immer noch beim Ablativus absolutus , dessen komplexe Struktur das Verständnis der anderen Knappen zu übersteigen schien. Ohnehin war ihr Wissen beschämend gering, was – so vermutete Wulf – daran lag, dass sie keinerlei Respekt vor dem alten Pfarrer hatten, dessen mildes Regiment nicht einmal ansatzweise mit dem Stab zu vergleichen war, den die Lehrer in der Straßburger Lateinschule mit so viel Inbrunst geschwungen hatten.
Widerwillig duckte er sich durch den niedrigen Türrahmen. »Verzeiht, Pater«, murmelte er in einem Ton, von dem er hoffte, dass er Zerknirschung
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