Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Ringelblumen, der Arm voller Mohn, der Goldregen und die bizarr geformte Osterluzei waren diese für das Heilig-Geist-Spital gedacht, in dem ihre älteste Schwester Dienst an den Armen und Kranken der Stadt tat. Hingerissen von der Blütenvielfalt des kleinen, von einer ausladenden Kastanie überschatteten Gartens, hatte Brigitta den würzigen Geruch der sonnenbeschienenen Erde eingesogen. Auch den Tanz der Schmetterlinge, die von einer Pflanze zur anderen torkelten, hatte sie bewundert. Schwer hing das Aroma der verblühten Fliederbüsche in der angenehm warmen Luft, wo es sich mit den aus der Küche ins Freie strömenden Wohlgerüchen vermischte. Das Summen der Bienen und Hummeln hatte ihre angstvollen Gedanken ein wenig beruhigt, doch genügte ein Blick zum Haus, um ihr erneut eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen. Selbst die Anwesenheit ihrer Mutter konnte das Gefühl nicht vertreiben, das sie seit dem Zusammenstoß mit Ortwin nicht mehr loslassen wollte. Einzig das Wissen, dass er sich zu dieser Zeit auf der Baustelle befand, hatte sie dazu bewegen können, allein in den Hof zu gehen, den sie in letzter Zeit mied wie der Teufel das Weihwasser. Wann immer sie den Drang verspürte, den Abort aufzusuchen, zögerte sie diesen Gang so lange hinaus, bis sie fürchtete, der Schmerz könne ihr den Unterleib zerreißen. Dann, wenn ein Besuch des stillen Örtchens nicht mehr abzuwenden war, bat sie die Magd Elisabeth darum, sie zu begleiten. Und nachts war sie dazu übergegangen, die Bettpfanne zu benutzen – auch wenn ihr der Gestank Übelkeit bereitete. Wie Freiwild auf der Flucht vor dem Jäger blickte sie sich alle paar Schritte um, wann immer sie sich in der Halle oder im Erdgeschoss des Hauses aufhielt, da sie stets fürchtete, die Begegnung mit dem verhassten Gesellen könne sich wiederholen. Mehr als einmal hatte sie bereits Anlauf genommen, um ihrer Mutter von der Notlage zu berichten, doch stets hatten sie ihr schlechtes Gewissen und ein nagendes Schuldgefühl davon abgehalten. Denn zweifelsohne würden dann die Treffen mit Gunner, dem sie entschlossen aus dem Weg ging, ans Tageslicht kommen – und das wollte sie um alles in der Welt vermeiden. Auch hatte ihre Mutter nur wenig Einfluss auf ihren Vater, und sollte dieser tatsächlich beschlossen haben, sie mit Ortwin zu vermählen, dann blieb ihr nicht viel anderes übrig als zu gehorchen. Es sei denn, sie trat wie ihre Schwester in einen Orden ein. Die Idee ließ ihr Herz schneller schlagen, doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuße. Ohne Aufnahmegeld würde keine der Sammlungen der Stadt sie als Mitglied akzeptieren. Und Geld hatte sie keines!
Niedergeschlagen verstaute sie die Ernte in dem Korb zu ihren Füßen, rückte den Schleier auf ihrem offenen Haar zurecht und steuerte auf das Tor zur Straße zu, auf der sich zwei räudige Köter um einen Knochen balgten.
»Gib auf dich acht und trödel nicht.« Mit diesen Worten drückte ihre Mutter ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verschwand in Richtung Waschstube, vor der sich mehrere Säcke schmutziger Kleider und Bettlaken stapelten. Eigentlich hätte Brigitta dankbar sein müssen, der harten Arbeit entkommen zu sein, doch allein der Gedanke daran, schutzlos den Weg bis zur Donau zurücklegen zu müssen, erfüllte sie mit wachsender Beklemmung. Während sie in das geschäftige Treiben in der zum Münsterplatz führenden Gasse eintauchte, beschleunigte sich ihr Puls erneut und das Gefühl, ersticken zu müssen, verstärkte sich. Mit gesenktem Blick huschte sie dicht an den Mauern der Häuser vorbei, ignorierte die ihr entgegenströmenden Händler, Knechte, Mägde und Tagediebe und presste sich in Nischen und Torwege, wann immer eines der gefährlichen Fuhrwerke an ihr vorbeirumpelte. Ohne die Baustelle oder die daran angrenzende Barfüßerabtei eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich nach wenigen hundert Schritten nach links und eilte am Judenhof vorbei in die Sammlungsgasse. Hier wich sie einer Schar grau gewandeter Beginen aus, die zweifelsohne dem Ruf der soeben einsetzenden Friedhofsglocke folgten. Nachdem ihr altes Sammlungsgebäude dem Münsterbau hatte weichen müssen, waren sie in ihr jetziges Domizil umgezogen, womit sie allerdings den Einfluss auf das dem Franziskanerkloster angegliederte Hospital verloren hatten. Deshalb, so hatte Brigitta von ihrer Schwester erfahren, betätigten sie sich mittlerweile immer häufiger als bezahlte Klageweiber, die auf Beerdigungen dafür
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