Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
selbstständig werden können?« Empörtes Gemurmel gab ihm recht.
Da Ulrich von Ensingen versprochen hatte, bei einem Geldverleiher ein gutes Wort für ihn einzulegen, interessierten Ortwin die Anliegen seiner Kollegen allerdings nur noch am Rande. Eigentlich war ihm mehr an dem anschließenden Gelage in der Trinkstube gelegen als an dem sich ständig wiederholenden Gejammer. Lohnerhöhungen, Verkürzungen der wöchentlichen Arbeitszeit, ja gar Streiks planten diese Fantasten, um sich mehr Eigenständigkeit zu sichern. Manche gingen noch weiter und forderten eine Bruderschaftskasse, die Geld zur Verfügung stellte und für die Versorgung von Kranken, Witwen und Waisen sorgte!
Während der Redner sich in weiteren Tiraden erging, drückte Ortwin sich in Richtung Trinkstube, wo er sich einen der besten Plätze in der Nähe des Ausschanks sicherte.
Das einzig Wichtige war für ihn, sobald als möglich den Geldverleiher zu treffen, um mit diesem die Bedingungen für seinen Kredit auszuhandeln. Da es offiziell von der Kirche verboten war, für geliehenes Geld Zinsen zu verlangen, hatten sich die Gewitzteren unter den Geldverleihern Wege einfallen lassen, um dieses Gesetz zu umgehen. So trieben sie durch »Schadensersatzklauseln« und das Festhalten höherer Beträge als der tatsächlich ausgezahlten den Zinssatz zum Teil bis auf sechzig Prozent im Monat. Ortwin war sich sehr wohl bewusst, dass er ohne die Mitgift des Werkmeisters keine Chance haben würde, den Betrag, den er benötigte, jemals wieder zurückzahlen zu können. Doch wenn er das Verhalten Ulrichs richtig gedeutet hatte, dann zog dieser ihn als zukünftigen Schwiegersohn durchaus in Betracht. Befriedigt durch das Intermezzo mit der Dirne zwinkerte er der drallen Wirtin zu, die mit einem strahlenden Lächeln einen Becher schäumenden Holunderbieres vor ihm abstellte.
»Na, du strammes Mannsbild«, zwitscherte sie mit hoher Kleinmädchenstimme, die in krassem Gegensatz zu ihrer Leibesfülle stand. »Hat dich die Sehnsucht nach mir hierhergetrieben?« Der Mund mit den fauligen Zahnstummeln verzog sich zu einem – das nahm Ortwin jedenfalls an – verführerisch gemeinten Lächeln, das ihn dazu veranlasste, instinktiv den Kopf ein wenig zurückzubiegen. Die von einem Netzwerk rot-blauer Äderchen überzogenen Wangen leuchteten fettig, und das strähnige graue Haar fiel in einem dicken Zopf über ihre Schulter nach vorn.
»Aber sicher doch, Gudrun«, log er und hob den Becher an die Lippen, um einen tiefen Zug zu nehmen. »Du weißt doch, dass ich Tag und Nacht von dir träume.«
Das kehlige Lachen, das Gudrun ausstieß, hätte ein zarteres Gemüt verwelken lassen, doch Ortwin zuckte nicht einmal zusammen, als sie ihm herzhaft die fleischige Hand auf die Schulter drosch. »Eines Tages wirst du erkennen, was du dir entgehen lässt«, gluckste sie und wandte sich von ihm ab, um ihm ihr fülliges Hinterteil entgegenzustrecken, bevor sie wieder hinter dem Tresen verschwand.
Sicherlich, dachte Ortwin spöttisch und nahm einen weiteren Schluck. Der Grund, warum er sich immer wieder auf das Geplänkel mit der hässlichen Vettel einließ, war, dass sie ihm hie und da einen Krug Wein oder Bier in die Hand drückte, ohne eine Bezahlung zu verlangen. Während allmählich weitere Gesellen in der Trinkstube eintrudelten, lehnte er sich zurück und malte sich seine Zukunft aus. Wenn alles nach Plan verlief, würde er nicht nur bald zur Elite der Ulmer Handwerker gehören, sondern er würde auch eines der schönsten Mädchen der Stadt sein Eigentum nennen. Denn genau das war Brigitta für ihn. Nicht mehr und nicht weniger als ein Luxusgut, mit dem man sich schmücken und vor den anderen Männern prahlen konnte. Abgesehen von den Freuden des Ehegemachs natürlich! Er lachte leise. Wenn er sich vorstellte, was sich unter all den aufgebauschten Schichten ihrer Tracht verbarg, begann sein Blut erneut zu kochen. Geduld!, schärfte er sich ein und nickte einem Tischnachbarn zu, der den Krug hob, um ihm zuzuprosten. Geduld! Nicht mehr lange, und er würde ihren Willen brechen wie den einer halsstarrigen Stute.
Kapitel 7
Ulm, Ende Mai 1368
»Vergiss die Akazienblüten nicht, Brigitta!«
Die mahnende Stimme ihrer Mutter ließ die junge Frau zusammenfahren. Selbstvergessen hatte sie die schweren, noch taufeuchten Köpfe der weißen Heckenrosen abgeschnitten und in ein Tuch geschlagen, damit sie nicht zu schnell ihren Duft verloren. Ebenso wie die Arnika, die dottergelben
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