Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
sorgten, dass der oder die Tote angemessen beweint wurde.
»Manche von ihnen sind einfach widerlich«, hatte ihre Schwester geschimpft und die Nase gerümpft. »Hysterische Heulkrämpfe und verzweifelte Gebärden sind noch das Wenigste. Ich habe schon gesehen, dass einige sich sogar die Haare ausreißen!«
Die Lächerlichkeit des Bildes, das bei der Erinnerung an das Gespräch vor Brigittas innerem Auge auftauchte, ließ sie für einen kurzen Moment ihre Furcht vergessen. Sie blickte den steifen Gestalten hinterher, die sich soeben die weißen Kapuzen tief ins Gesicht zogen und ein durchdringendes Gewimmer anstimmten. Die drei hintersten begannen rhythmisch die Oberkörper hin und her zu wiegen, während die vorderen Frauen sich die Fäuste gegen die Schläfen schlugen. Mit dem schwachen Lächeln, das sich auf Brigittas Gesicht ausbreitete, flammte so unvermutet brennender Zorn in ihr auf, dass sie mitten in der Bewegung innehielt. Wie ein glühender Dorn bohrte sich die Wut in ihre Brust und vertrieb die ermattende Mutlosigkeit, die gedroht hatte, sie auszuhöhlen. Wenn selbst diese mitleiderregenden Frauen es schafften, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, dann würde auch sie nicht so einfach aufgeben – selbst wenn sie keinen einzigen Pfennig besaß! Wenn nötig, würde sie ihren Vater auf Knien anflehen, ihr einen anderen Gemahl zu suchen. Hatte er nicht auch ihre Schwester gewähren lassen, als diese ihn gebeten hatte, das Aufnahmegeld für den Heilig-Geist-Orden zu bezahlen? Sicherlich, er hatte sich dadurch eine hohe Mitgift gespart, doch war es auch ein Opfer für ihn gewesen. Hätte er seine Tochter mit einem Meister vermählt, wäre sein Einfluss innerhalb der Zunft noch mehr gestiegen. Die Hoffnung ließ Brigitta schneller atmen. Würde er es nicht als Zeichen ihres Gehorsams sehen, wenn sie ihn bat, ihr einen älteren, erfahreneren Gemahl zu finden, als Ortwin es war? Suchten nicht viele der verwitweten Steinmetze nach jungen Frauen, die ihnen gesunde Söhne gebären konnten? Die neu gewonnene Entschlossenheit ließ sie die Schultern straffen. Liebe – das wusste sie seit Gunners Betrug – war ohnehin nichts als eine ausgeklügelte Täuschung, mit der Nichtsnutze versuchten, unerfahrenen Mädchen die Unschuld zu rauben! Was nutzte es, danach zu suchen?! Alles, was zählte, war, dass der Mann, mit dem sie das Ehegemach teilte, sie respektierte und den Haushalt führen ließ. Dann würde sie ihm so viele Söhne gebären, wie er wollte!
Mit trotzig nach vorne gerecktem Kinn setzte sie den Weg fort und klopfte wenig später an die Tür des Heilig-Geist-Spitals, das von Brüdern und Schwestern des gemischten Ordens geführt und verwaltet wurde.
»Brigitta«, begrüßte die Torhüterin das Mädchen. »Wenn du deine Schwester suchst, musst du heute warten.« Sie verzog die faltigen Lippen zu einer schwer zu deutenden Grimasse. »Sie ist bei der Lepraschau.« Nachdem sie den Korb der Besucherin bemerkt hatte, setzte sie etwas freudiger hinzu: »Gott sei mit dir und deiner Familie. Bring die Sachen in die Küche. Schwester Anna wird sich freuen. Sie wollte heute Salben kochen.« Damit trat sie beiseite und ließ die junge Frau in die untere Stube des Spitals eintreten, die Brigitta stets an eine Kirche erinnerte. Die weiß getünchten Wände wurden lediglich hie und da von schmalen Fensterschlitzen unterbrochen, und zwei Säulenreihen teilten die Halle in zwei gleich große Bereiche. Während zu Brigittas Rechten die Männer sich oft zu dritt einen Bettkasten teilten, wurden links die Frauen von den Ordensmitgliedern versorgt. Am Kopfende des lang gestreckten Raumes befanden sich ein Altar, über dem ein gewaltiger gekreuzigter Jesus hing, sowie eine Kanzel, von der an Sonn- und Feiertagen die Messe gelesen wurde. Eine Novizin fegte mit mürrischer Miene den Mittelgang und machte einen weiten Bogen um eine soeben verstorbene Patientin, die von zwei Schwestern nackt aus dem Bett gezogen und in ein graues Leinentuch eingenäht wurde. Um die Betten der reichen Patienten scharten sich Knechte, Priester und Kinder, wohingegen die ärmeren Kranken meist starr an die getäfelte Decke stierten und die Rosenkränze auf ihrer Brust umklammerten. Der Gestank nach Blut, Urin, Schweiß und Kot ließ Brigitta die Schritte beschleunigen, an den Badestuben, Waschräumen und Aborten vorbeieilen und in die Küche am Ende des Ganges flüchten. Dort traf sie – entgegen der Auskunft der Torhüterin – jedoch niemanden
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