Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Einsamkeit wirklich noch weniger als nichts. Wenn Wulfs allabendliche Gebete nach einem baldigen Ende der Fron nicht bald erhört wurden, würde auch er ohne Zweifel den Verstand verlieren!
Kapitel 6
Ulm, Mitte Mai 1368
»Es ist mir egal, wer dir diesen Mist erzählt hat«, tobte Ortwin, bevor er den verschüchterten Lehrling, dessen Ohren vor Scham glühten, mit einem Tritt in Richtung Backsteinofen jagte. »Aber wenn du dich noch einmal unerlaubt von deiner Arbeit entfernst, kannst du was erleben!« Als seien die Dämonen der Hölle hinter ihm her, gab der Bengel Fersengeld und verschwand hinter einem der überdachten Gestelle, auf denen die aus Lehm hergestellten Ziegel zum Trocknen ausgelegt wurden.
»Hat man so etwas Einfältiges schon gehört?«, erboste sich der Obergeselle und starrte auf die begonnene Ritzzeichnung eines Maßwerkfensters, die er auf dem hölzernen Reißboden in der Nähe des Chores angefertigt hatte. Einen Ziegelwinkel sollte er holen! Welcher Idiot fiel denn auf so einen Blödsinn herein? Mit einem missfälligen Laut rümpfte Ortwin die Nase. Zwar gehörte es zur Tradition der Handwerker, die Frischlinge auf unsinnige Botengänge zu schicken, doch manche Dinge schlugen dem Fass dann doch den Boden aus. Wenn der Bursche schon Ziegler werden wollte, sollte er wenigstens wissen, dass die Backsteine mithilfe einer hölzernen Form hergestellt wurden! Vor sich hin brummend schob er Zirkel und Griffel beiseite und legte den Kopf schief, um herauszufinden, was ihn an dem Entwurf störte. Irgendetwas schien unausgewogen, doch obwohl er bereits seit Tagen nachbesserte, Linien auslöschte und neu zog, wollte ihm das Ergebnis einfach nicht gefallen. Er kratzte sich am Kinn und zuckte die Schultern. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen! Seit der Begegnung mit Brigitta hatte sich sein Denken deutlich nach unten verlagert.
Mechanisch griff er sich in den Schritt, um seine übereifrige Männlichkeit zurechtzu- legen. Wenn er dem Druck nicht bald abhalf, würde er sich dazu verleiten lassen, etwas Unüberlegtes zu tun. Und das war trotz der großen Worte, mit denen er der Kleinen einen Schrecken hatte einjagen wollen, keine gute Idee. Zwar hatte Ulrich von Ensingen ihm mit der Ausbildung zum Ritzzeichner mehr als nur seine Gunst erwiesen, doch hatte Ortwin sich mit dem Heiratsversprechen ein wenig zu weit aus dem Fenster gelehnt. Nicht mit einem einzigen Wort hatte der Werkmeister angedeutet, dass er beabsichtigte, ihm seine Tochter zur Frau zu geben. Lediglich die Sonderstellung, die er in Ulrichs Haushalt einnahm, hatte ihn zu dieser Annahme verleitet. Er stöhnte leise. Was für übermenschliche Anstrengung es ihn gekostet hatte, den Leckerbissen nicht an Ort und Stelle zu vernaschen, als sich ihm die Gelegenheit geboten hatte! Wie lange würde er noch standhaft bleiben können? Und was, wenn sie ihn bei ihrem Vater anschwärzte? Er schürzte die Lippen und blies die Luft durch die Nase. Nein, das brauchte er vermutlich nicht zu befürchten, denn wie alle jungen Dinger glaubte sie vermutlich den Predigern, die alle Laster und Sündhaftigkeit auf die Frauen schoben. Nicht zu vergessen das Abenteuer mit Gunner, das Ortwin mit der Aufmerksamkeit eines Luchses verfolgt hatte.
Mit einem letzten Blick auf die Zeichnung schob er den Unterkiefer nach vorn, um seine Oberlippe mit den Zähnen zu bearbeiten, und wandte dem Chor den Rücken. Es gab nur eine Lösung für sein Problem, auch wenn diese nur die unmittelbaren Beschwerden erleichtern würde. Geschickt duckte er sich unter Leitern, Laufschrägen und Kränen hindurch, huschte dicht an die bereits fertiggestellten Mauerteile gedrückt in Richtung Westen und fand nach kurzer Zeit, was er gesucht hatte. Wie jeden Tag verbarg sich die blonde Bäckersmagd, die die Handwerker nicht nur mit Brot und Brezeln versorgte, im Schatten der unvollendeten Stützpfeiler, unter denen sich Baumaterial und Unrat stapelten. Gelangweilt an den Fingernägeln kauend malte sie mit den nackten Zehen Muster in den Dreck, doch sobald sie seiner Anwesenheit gewahr wurde, sprang sie auf und strich sittsam über die kleine Haube, unter der sie die dunkelblonden Locken mehr schlecht als recht verstaut hatte. Kaum hatte sie erkannt, dass es sich nicht um den strengen Meister Ulrich handelte, sondern um einen potenziellen Freier, griff sie sich jedoch mit einem selbstbewussten Lächeln an die Brust und präsentierte ihre wahrhaft märchenhafte Auslage.
»Seid Ihr nicht
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