Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Bauhütte führte. Dort wandte er sich nach links, wo ein Wald aus Gerüststangen, unfertigen Pfeilern, Fialen und Säulen den Zugang zu dem hinteren Teil des überdachten Ziegellagers so weit versperrte, dass nur ein schmaler Spalt blieb. Mit dem Zeigefinger auf den Lippen schob er Ulrich auf diese Nische zu und bedeutete ihm hindurchzulugen, während sich sein Magen verkrampfte. Wenn die kleine Dirne nicht getan hatte, wofür er sie bezahlt hatte, konnte er seine Laufbahn als Steinmetz begraben!
»Gütiger Gott!« Der entrüstete Ausruf sandte eine Gänsehaut über Ortwins Arme. »Gerhard!« Ohne auf den Schaden zu achten, den er damit anrichtete, stemmte der mit einem Schlag kalkweiße Werkmeister die Schultern gegen ein Bündel Stangen, das mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf dem Boden aufschlug. Kaum war der Durchgang breit genug, drängte er sich in das Lager, wo im dämmrigen Licht des verregneten Morgens der Maßwerkmeister Gerhard mitten in der Bewegung innehielt und stammelnd auf die nackte Rückseite der Kebse blickte, die vor ihm im Sand kniete. Sprachlos vor Entsetzen zuckten Ulrichs Augen von der milchweißen Haut der erhitzten Bäckersmagd zu dem sich einfärbenden Gesicht seines zukünftigen Schwiegersohnes, der seine erschlaffende Männlichkeit zurückzog und hastig in der staubbefleckten Hose verstaute.
»Gerhard«, wiederholte der Baumeister schwach, während die ebenfalls erbleichte Magd sich aufrappelte und ihre Blöße bedeckte. Wie ein in die Falle gegangenes Tier blickte sie von einem zum anderen, und bevor Ulrich von Ensingen sie an den Haaren packen und vor den Bischof schleifen konnte, setzte sie über einen Stapel fertiger Ziegel und verschwand in Richtung Bauhütte. Sichtlich hin- und hergerissen zwischen dem Drang, ihr nachzujagen, um sie der Strafe für ihr unsittliches Verhalten zuzuführen, und dem lähmenden Entsetzen, das ihn an Ort und Stelle festnagelte, ließ sich Ulrich von Ensingen nach einigen schweren Atemzügen entkräftet auf einen Steinblock sinken. »Wie konntet Ihr nur?«, stieß er nach einer scheinbaren Ewigkeit der lastenden Stille hervor und schüttelte den Kopf. »Wie konntet Ihr nur?« Als Gerhard zu einer Erwiderung ansetzen wollte, schnitt Ulrich ihm mit einer heftigen Bewegung das Wort ab und stieß zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Nicht nur beleidigt Ihr die Ehre meiner Tochter, indem Ihr es nach Eurer Verlobung mit einer Hure treibt! Ihr befleckt auch noch den Namen des Herrn, indem Ihr Euch einen der heiligsten Tage des Jahres dazu aussucht!« Da er die Handflächen über sein Gesicht zog, bemerkte er das hämische Grinsen nicht, mit dem Ortwin den verdatterten und in die Ecke getriebenen Gerhard bedachte.
»Geht mir aus den Augen«, murmelte Ulrich schließlich resigniert. Als der Angesprochene keine Reaktion zeigte, sprang er auf, schnellte auf den Maßwerkmeister zu und packte diesen zornesrot am Kragen. »Geht! Ich will Euch nie wieder sehen! Packt Eure Sachen und verschwindet!« Speicheltropfen sprühten, als er weiter tobte. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihr diese Baustelle nie wieder betretet!« Damit stieß er den ehemaligen Vertrauten angeekelt von sich, machte auf dem Absatz kehrt und rauschte an Ortwin vorbei hinaus ins Freie, wo er mehrere Male tief durchatmete. Nachdem er sich ein letztes Mal an dem Anblick des vollkommen vernichteten Nebenbuhlers geweidet hatte, folgte Ortwin dem Werkmeister und trat scheinbar zerknirscht neben ihn. »Es war meine Pflicht …«, hub er leise an und senkte den Blick, um das triumphierende Aufblitzen seiner Augen vor Ulrich von Ensingen zu verbergen. Während sein Zwerchfell sich erwartungsvoll zusammenzog, beobachtete er den sichtbar um Haltung ringenden Mann, auf dessen Zügen die Gefühle Widerstreit hielten. Mit hämmerndem Herzen öffnete und schloss er die Fäuste und versuchte, den an die Oberfläche drängenden Gedanken an die erste, morgen fällige Zinszahlung zu unterdrücken. Wenn Ulrich so reagierte, wie er es sich erhoffte, würden mit dem heutigen Tag alle Probleme der Vergangenheit angehören.
Als der scheinbar um Jahre gealterte Baumeister schließlich müde den Kopf hob, um den Blick der geröteten Augen auf Ortwin zu heften, hielt dieser instinktiv den Atem an. »So bestraft der Herr die Törichten«, murmelte Ulrich mit einem Seufzen. »Verzeih mir, Ortwin. Ich hätte den Lügen dieses lüsternen Affen keinen Glauben schenken sollen.« Er schluckte schwer. »Wie konnte ich
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