Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
beantwortete sich, als keine zwei Steinwürfe zur Linken des Trosses der lang gestreckte Leib eines streunenden Hundes durch das hohe Gras schnellte. Wie ein silberner Pfeil schoss er auf die langsamste der fliehenden Stuten zu, doch bevor er die Fänge in die lohfarbene Flanke schlagen konnte, riss ihn ein Armbrustbolzen zu Boden. Mit einem stolzen Feixen auf den wettergegerbten Zügen ließ einer der Ritter die Waffe sinken, sprang aus dem Sattel und trat den getöteten Jäger mit dem Stiefel beiseite. Während sich der drohende Halbkreis dunkler Wolken langsam immer weiter von der Alb in Richtung Härtsfeld schob, erfüllte Wulf von Katzenstein das prickelnde Gefühl eines bevorstehenden Abenteuers. Beinahe schien es, als habe der verwilderte Hund ihn an die möglichen Gefahren der Reise erinnern wollen.
Kapitel 16
Ulm, Fronleichnam 1368
» Panis est corpus Christi, est corpus Christi, quod est vita mundi, et sanguis, qui est emundatio peccatorum.”
Unter dem feierlichen Sprechgesang des Priesters trugen die in weiße, bodenlange Gewänder gekleideten Novizen die mit Blumen geschmückte, sonnenförmige Monstranz mit dem eucharistischen Brot durch den Mittelgang des unvollendeten Münsters, bevor sie sie vor dem Altar im Chorraum absetzten.
»Das Brot ist der Leib des Herrn, ist der Leib des Herrn, der das Leben der Welt ist, und das Blut, das euch von den Sünden reinigt«, übersetzte der mit einem goldfarbenen Pluviale – einem vorne offenen Umhang – protzende Bischof, von dessen Hals ein edelsteinbesetztes Kruzifix baumelte. Dann legte er sich feierlich das Manipel, ein schmales Band, über den linken Arm und hob die in die Monstranz eingefasste Hostie hoch über den Kopf, um sie den begierigen Augen der Gemeinde darzubieten. Funkelnd fing sich das Licht der Kerzenleuchter in der gold- und perlenbestickten Mitra auf seinem grauen Haarkranz, die mit jedem Wort des Geistlichen auf und ab wippte. Während sein Blick die dicht gedrängten Reihen abtastete, verfolgte Ortwin ungeduldig und angespannt mit einem Ohr die nicht enden wollende Messe.
Die Fronleichnamsprozession zog feierlich durch die Straßen der Stadt, um an vier Altären in unterschiedlichen Himmelsrichtungen haltzumachen. Nach über vier Stunden kam sie endlich in der Münsterkirche an, deren unfertiges Kreuzrippengewölbe die Gläubigen nur notdürftig vor dem über der Stadt niedergehenden Regenguss schützte. Um zu verhindern, dass die Seelmessen ungebührend lange ausgesetzt wurden und die Bürger ihre Stiftungen an die Klöster anstatt an die Pfarre machten, hatte der Rat kurz nach Fertigstellung des Chores beschlossen, das Münster einzuweihen. Was dazu geführt hatte, dass nur die privilegierten Ulmer ein Dach über dem Kopf hatten, während das einfache Volk sich in dem lediglich von dem hölzernen Dachstuhl überspannten Langhaus drängte. Unaufhaltsam tränkten die spritzenden Fontänen die Gewänder der Gläubigen und bildeten Pfützen auf dem nackten Steinboden, während die glockenhellen Stimmen der Knaben auf das Zeichen des Bischofs hin zu einem Lobgesang ansetzten. Wohingegen die Frauen und Töchter der Patrizier auf den für sie reservierten, von den Männern getrennten Bänken andächtig die Köpfe senkten, begannen die weiter hinten im Mittelschiff stehenden Besucher schon bald zu tuscheln. Ebenso wie Ortwin schienen viele der weniger betuchten Bürger Ulms allmählich das Interesse an dem Gottesdienst zu verlieren, der sich als noch ermüdender erwies als befürchtet.
Derweil viele der Kirchgänger in die Hymne mit einstimmten, befeuchtete Ortwin die verschorften Lippen und zwang sich, den Blick von der schräg vor ihm neben ihrer Mutter stehenden Brigitta abzuwenden. Goldgelockt und hinreißend machte sie den beiden Engelsfiguren am Chorbogenscheitel Konkurrenz, und wenn er die sich andächtig hebende Brust noch länger betrachtete, würde er die Neugier seiner ohnehin schon argwöhnischen Nachbarn weiter auf sich ziehen. Frömmigkeit heuchelnd senkte er den Kopf und versuchte, sein in Wallung geratenes Blut wieder unter Kontrolle zu bringen. Wie nahe er davor gewesen war, die Frucht zu kosten! Als wolle sein Verstand ihm einen Streich spielen, zeichnete sich das verzerrte Gesicht der jungen Frau auf dem bleichen Stein zu seinen Füßen ab und verschwamm in einer Reihe von Bildern, die seine Erinnerung ihm vorgaukelte. Die weit aufgerissenen Augen, als sie erkannt hatte, dass er es dieses Mal ernst meinte; die flehend
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