Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
nützte es, das Erwachsenenalter zu erreichen, wenn man einen Vater hatte, der einen hasste? Warum war er nur so blind?!
»Bitte lasst mich in ein Kloster eintreten«, flüsterte sie – ihren gesamten Mut zusammennehmend –, doch anstatt der erwarteten Schläge traf sie lediglich das freudlose Lachen des Baumeisters. »Und eine weitere Tochter verschwenden? Nur über meine Leiche!« Er dachte einen Moment nach, bevor er herrisch beschied: »Geh zurück an deine Arbeit!« Eisig verfolgte er, wie Brigitta wie ein geprügelter Hund in Richtung Ausgang davonschlich, und als sie die Tür zum Treppenhaus erreicht hatte, schickte er ihr hinterher: »In den nächsten Tagen wirst du dich auf die Brautwerbung vorbereiten.« Endgültig fertig mit seiner widerspenstigen Tochter, trat er hinter seine Gemahlin, legte ihr die Hände auf die Schultern und gab vor, interessiert ihren Stichen zu folgen.
Leise weinend stolperte Brigitta die Treppen hinab in die Halle, wich den neugierigen Blicken der Mägde aus und hastete mit gesenktem Kopf über den Hof in die Waschstube, wo sie mit fahrigen Händen nach einem Stock griff, um blind in dem hölzernen Bottich zu stochern. Als könne sie dadurch alles ungeschehen machen, walkte sie die schmutzigen Laken in dem lauwarmen Wasser lange Zeit so heftig durch, dass sich die Röcke ihrer Fucke schon bald vollsogen. Bevor ihr Vater sie an diesem Samstagnachmittag zu sich befohlen hatte, hatte sie immer wieder geglaubt, Wulfs Bild in den tanzenden Seifenblasen zu sehen. Doch als sie nach einer Weile widerstrebend in die Lake blickte, grinste ihr Ortwins hämische Fratze so täuschend echt entgegen, dass sie zusammenschrak. Mit einem dumpfen Ausruf wich sie vor dem Trugbild zurück und prallte mit einem harten Körper zusammen, der im selben Moment hinter ihr im Türrahmen auftauchte. Voller Panik wollte sie den Rührstab heben, um auf den Eindringling einzuschlagen, doch die sanfte Stimme und zwei behutsam nach ihren Handgelenken greifende Hände ließen sie mitten in der Bewegung innehalten.
»Keine Angst, ich bin es.« Ein schüchternes Lächeln zauberte zwei Grübchen auf Wulfs sonnengebräunte Wangen, die einige unschöne Schrammen verunzierten. Unter den bernsteinfarbenen Augen lagen dunkelviolette Ringe, die sich bis weit über den gebrochenen Nasenrücken und die Jochbeine zogen. Während sich Brigittas Herzschlag schmerzhaft beschleunigte, ließ sie zu, dass er ihr den Stock entwand und ihren bebenden Körper in die Arme schloss. Kaum ruhte ihre Wange an seiner Brust, trat alles andere um sie herum in den Hintergrund. Wie ein schützender Mantel legten sich seine Wärme und Stärke um sie, und als seine Finger sacht ihr Haar streichelten, klammerte sie sich an ihn wie eine Ertrinkende.
»Weine nicht«, murmelte er und presste die Lippen auf ihre Locken, während ihre Verzweiflung und Trauer sich in wellenartigen Krämpfen Luft machten. »Ich weiß, was sie dir antun wollen. Ortwin hat dafür gesorgt, dass es die gesamte Baustelle erfährt.« Vorsichtig schob er sie ein wenig von sich und nahm ihr tränennasses Gesicht in die Hände, um sie zart zu küssen. Erst auf die Stirn, dann auf die schmale Nase und schließlich auf die leicht geöffneten Lippen, die sie einem Reflex folgend fest aufeinanderpresste. Als er genauso behutsam zu ihren Mundwinkeln wanderte, um die salzigen Tränen aufzunehmen, gab sie dem überwältigenden Gefühl nach und drängte sich ihm entgegen. Sobald seine Zungenspitze die ihre fand, beugte sie mit einem kleinen Laut den Kopf zurück und grub die Finger in sein Hemd. Mit einem Mal schwindelig, schloss sie die Augen. Niemals zuvor hatte sie ein derartiger Strudel der Empfindungen mitgerissen wie in diesem Moment, in dem all ihre Probleme und Ängste zu einem Schemen verblassten.
Nach unendlichen Augenblicken der Glückseligkeit ließ Wulf schließlich von ihr ab und blickte sie liebevoll an. »Ich werde mit deinem Vater reden«, versprach er ernst. »Ich werde ihm klarmachen, wie ehrlos Ortwin ist. Dann wird er es sich sicherlich anders überlegen.« Er zögerte einige Lidschläge lang, bevor er schüchtern hinzusetzte: »Wenn du es erlaubst, kann ich vielleicht selbst um deine Hand anhalten.«
Diese Idee raubte Brigitta den Atem. Wie hatten sich die Ereignisse nur so ungeheuerlich schnell überschlagen können? Was noch vor wenigen Wochen undenkbar gewesen war, schien im Licht der aufflammenden Liebe so selbstverständlich wie die Tatsache, dass die
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