Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
wenigen Hieben in tausend Stücke zerbarst. »Du bist entlassen!«
»Um Himmels willen, Ulrich, haltet an Euch.« Das Entsetzen des Kreuzwinkelmeisters sorgte dafür, dass der Angesprochene die Hacke fallen ließ und keuchend auf die zertrümmerte Figur hinabstarrte. »Warum habt Ihr das getan?«, fragte der Bildhauer und blickte verständnislos von einem zum anderen.
»Weil dieser Bengel meine Tochter durch den Schmutz zieht«, erboste sich Ulrich von Ensingen und stieß mit dem Schuh gegen das entzweigegangene Antlitz der Skulptur, das trotz der Zerstörung immer noch merkliche Ähnlichkeit mit Brigitta aufwies. »Ihr solltet Euch besser nicht einmischen«, knurrte er. »Diese Angelegenheit geht nur mich und diesen Burschen etwas an. Das gilt auch für dich!« Er funkelte den vor Erschütterung erstarrten Lutz an, der mit weit aufgerissenen Augen die ungeheuerliche Szene verfolgte.
Die Hand des Werkmeisters schnellte vor und packte Wulf an der Brust seines Hemdes. »Mach, dass du Land gewinnst«, presste er hervor, sichtlich darum bemüht, seine Fassung wiederzugewinnen. Eine beinahe fingerdicke Zornesader pulsierte auf der bleichen Stirn, die winzige Schweißperlen bedeckten. Frostig bohrte er den Blick in Wulfs Augen, sodass dieser nach einigen abgehackten Atemzügen blinzelnd die Augen niederschlug.
»Herr«, hub er leise an, doch sein ehemaliger Meister fuhr ihm barsch über den Mund. »Meine Tochter vor den Augen der ganzen Stadt! An der Fassade eines Gotteshauses! Als Dirne!« Seine breite Brust hob sich heftig. »Kein Werkmeister in diesem Land wird dich je wieder anstellen. Darauf kannst du dich verlassen!« Nachdem er ein letztes Mal mit dem Fuß gegen die Überreste der Jungfrau getreten hatte, fasste er Ortwin am Arm und rauschte mit diesem in Richtung Turm davon, wo die beiden in der Vorhalle verschwanden.
Einige Augenblicke herrschte betretenes Schweigen, bevor alle auf einmal durcheinanderzureden begannen.
»Er wird sich schon wieder beruhigen«, ermutigte der Kreuzwinkler seinen talentiertesten Künstler.
»Tauch ein paar Tage in einer Herberge unter und sprich dann noch einmal bei ihm vor«, schlug Lutz vor und drückte Wulf den entzweigegangenen Kopf der Schönen in die Hand. »Früher oder später verraucht sein Zorn.«
Betäubt und verstört nickte Wulf, nahm die tröstenden Worte seiner Kollegen jedoch nur mit halbem Ohr wahr, da sein Blut sich mit jeder Sekunde, die verstrich, mehr in Eis verwandelte.
»Halte die Ohren steif.«
Ohne es zu merken, hatte er begonnen, seine Werkzeuge einzusammeln, doch als ihm Lutz half, das Bündel auf den Rücken zu schnallen, kehrten seine Sinne zurück. Wie ein Dolchstich traf ihn die Erkenntnis, dass Ortwin den Spieß umgedreht hatte, um sich Wulf vom Hals zu schaffen. Ebenso geschickt, wie er Meister Gerhard in Misskredit gebracht hatte, hatte er mit diesem Schachzug Vorsorge getroffen, dass niemand Wulf glauben würde, wenn dieser ihn der versuchten Unzucht mit Brigitta bezichtigte. Wie unglaublich raffiniert! Keinen Augenblick hatte Wulf der Geschichte Glauben geschenkt, die Ortwin noch an Fronleichnam geschickt gestreut hatte. Sobald er von dem Skandal um Meister Gerhard gehört hatte, war er sich sicher gewesen, dass Ortwin irgendwie seine Finger im Spiel gehabt haben musste. Allerdings war er zu überheblich gewesen, sich diesen Vorfall als Warnung dienen zu lassen. Trotz der Aussichtslosigkeit der Lage entrang sich seiner Kehle ein trockenes Lachen. Was für ein Dummkopf er gewesen war, Ortwin zu unterschätzen! Zuversicht heuchelnd nahm er Abschied von den empörten Bildhauern, bevor er sich auf den Weg zum Haus des Werkmeisters machte, um auch dort seine Siebensachen zu packen.
Er würde aus dieser vorläufigen Niederlage lernen und seinen Schlachtplan ändern, dachte er hitzig, da mit jedem Schritt sein Kampfwillen zurückkehrte. Wenn Ortwin glaubte, dass er sich so schnell aus dem Feld schlagen ließ, dann hatte er sich getäuscht. Er würde bis aufs Blut kämpfen, um Brigitta davor zu bewahren, die Gemahlin dieses Mistkerls zu werden! Und wenn er sie dafür entführen musste!
Verdrießlich erwiderte er den Gruß der Köchin, hastete die schmale Treppe hinauf ins Lehrknechtquartier und packte seine Habe zusammen. Einem plötzlichen Impuls folgend, riss er sich die Arbeitskleidung vom Leib und schlüpfte in die eng geschnittene, zweifarbige Hose und die bestickte Schecke, mit der er in Ulm angekommen war. Irgendwie verlieh ihm dieser Akt
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