Das Erbe der Halblinge: Roman (German Edition)
besonders viel Ahnung brauchte, um zu treffen.
Neldo drehte den Kopf.
Er sah, wie der Ork die Waffe auf ihn anlegte. Und da er geduldig und vorsichtig genug gewesen war, um die Waffe zu spannen, ohne deren Mechanik zu zerstören, war zu befürchten, dass er auch die nötige Ruhe hatte, um sehr genau zu zielen.
Weiter oben im Geäst der Bäume wäre Neldo vermutlich einigermaßen sicher gewesen und hätte die Orks abhängen können. Aber so weit werde ich gar nicht kommen, erkannte er.
Er ergriff die nächstbeste Ranke, verlagerte sein Gewicht und nahm Schwung. Der Armbrustbolzen drang genau dort in den Baum, wo er gerade noch an dessen Borke gehangen hatte. Neldo schwang sich mit der Ranke fort. In diesem Moment beneide ich dich, Arvan, ging es ihm dabei durch den Kopf. Mochte er in Arvan lange Zeit einen zwar liebenswerten, aber doch recht plumpen und groben Kerl gesehen haben, der nicht klettern konnte, so stand doch fest, dass niemand Rankpflanzen so gut mit seinem Willen beeinflussen konnte wie er.
Neldo schwang weiter. Allerdings bemerkte er zu spät, dass er geradewegs auf einen fleischfressenden, hungrigen Katzenbaum zuschwang. Ein durch die Lüfte schwingender und höchst willkommener Fleischbrocken– das war Neldo im Augenblick für dieses hungrige Geschöpf. Der Katzenbaum senkte sein Greifgeäst und richtete das riesige Maul so aus, dass er geradewegs darin landen musste.
Gerade noch rechtzeitig sprang Neldo ab.
Er landete auf dem weichen Waldboden. Einige ellengroße Raupen nahmen Reißaus. Der Katzenbaum bekam nur die Ranke mit seinem Maul zu fassen. Ein wütend klingender, durchdringender Knurrlaut dröhnte Neldo daraufhin in den Ohren. Der Katzenbaum spuckte um sich. Neldo rannte um sein Leben, als der Katzenbaum mit seinem Greifgeäst nach ihm zu fassen versuchte. Einen dieser Greifäste wehrte der Halbling mit dem Rapier ab und rannte weiter. Dann fühlte er, wie sich etwas um seinen Knöchel schlang. Es war das äußerste Ende des Greifgeästes. Der Katzenbaum hatte sich, so weit es ihm gerade möglich war, ausgestreckt, um sich die schon in der Verdauung seiner ätzenden Baumsäfte gewähnte Mahlzeit doch noch zu sichern.
Neldo schlug der Länge nach hin.
Er wand sich, während der Katzenbaum ihn fester am Fuß fasste und über den Boden schleifte. Ein hoffnungsfrohes, gurgelndes Geräusch drang aus dem Inneren dieses Jägers, dessen größter Nachteil darin bestand, dass er mit seinem umfangreichen, weitreichenden Wurzelwerk festgewachsen war.
Neldo gelang es, das Rapier herauszureißen. Mit einer schnellen, zielsicheren und sehr kraftvollen Bewegung schwang er die perforierte Klinge zum Schlag. Mühelos fuhr sie durch den Greifast des Katzenbaums. Ein wütender Schrei folgte aus dem Maul des gierigen Hungerleiders. Dutzende seiner gelblichen Augen traten für einen Moment aus dem moosähnlichen Fell hervor, das seine Rinde bedeckte. Neldo rappelte sich auf und lief los. Ein Dutzend Schritt, vielleicht auch das Doppelte– dann war er außer Reichweite des Katzenbaums.
Dicht hinter ihm spürte Neldo einen Luftzug, und dann ging etwas auf den Boden nieder wie der Schlag einer Peitsche.
Der Katzenbaum hatte einen letzten vergeblichen Versuch unternommen, seine Beute doch noch einzufangen.
Neldo verlangsamte seinen Lauf und blieb dann stehen.
Die Horde der Orks, die ihn am Bach überfallen hatte, war ihm natürlich gefolgt.
Und jetzt umringten sie ihn in einem Halbkreis. Natürlich würden sie sich hüten, dem Katzenbaum zu nahe zu kommen. Auch wenn die Wälder am Langen See nicht ihre Heimat waren, so waren die von Ghool ausgesandten Scheusale doch inzwischen lange genug hier, um die Gefahren, die von diesen lauernden Jägern ausgingen, nicht zu unterschätzen.
Neldo atmete tief durch.
Anscheinend habe ich nur die Wahl, den Orks geradewegs in die Arme zu laufen oder mich vom Katzenbaum fressen zu lassen, dachte Neldo.
Die Orks blieben vorsichtig.
Neldo steckte das Rapier ein und nahm stattdessen seine Schleuder. Seit seiner Rückkehr in die Wälder am Langen See hatte er hier und da ein paar Herdenbaumkastanien gesammelt. Eine davon holte er jetzt aus seiner Gürteltasche und legte sie in die Lasche des Schleuderbandes. Gerade als der Armbrustschütze unter den Orks, der den Halbling zuvor schon um ein Haar getötet hatte, seine Waffe anhob, kam Neldo ihm zuvor.
Er schleuderte die Herdenbaumkastanie so zielsicher, dass sie auf der Stirn des Orks zerplatzte und die ätzenden
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