Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
und ertaste die beruhigende Wärme des dicken Gobelins, der die hintere Wand bedeckt. Langsam schiebe ich mich vorwärts, mein dunkles Kleid verbirgt mich vor ihren Blicken.
»Ich habe sie gesehen, als dieser Maler hier war«, sagt mein Bruder mit belegter Stimme. »Wie sie sich brüstete, in ihrer Eitelkeit spreizte. Geschnürt ... ganz ... eng geschnürt. Ihre Brüste ... ausgestellt ... im Versuch, anziehend zu wirken. Sie ist zur Sünde fähig, Mutter. Sie ist bereit für ... bereit für ... Ihr Wesen ist von Natur aus erfüllt von ...« Er kann es nicht aussprechen.
»Nein, nein«, wendet meine Mutter sanft ein. »Sie will uns nur Ehre machen.«
»... Wollust.«
Das Wort ist losgelöst, es fällt in die Stille der Halle, als könnte es zu jedem gehören: als gehörte es zu meinem Bruder und nicht zu mir.
Ich habe inzwischen die Tür erreicht. Vorsichtig hebe ich den Riegel an, bemüht, mit dem Finger der anderen Hand sein Klappern zu dämpfen. Drei Hofdamen erheben sich unauffällig und stellen sich vor mich, decken meinen Rückzug vor dem Paar am Kamin. Lautlos öffnet sich die Tür in gut geölten Angeln. Der kalte Luftzug bringt die Kerzen am Kamin zum Flackern, aber mein Bruder und meine Mutter starren einander an, immer noch im Entsetzen des verbotenen Wortes befangen, und wenden sich nicht um.
»Seid Ihr sicher?«, höre ich sie ihn fragen.
Ich schließe die Tür, bevor ich seine Antwort hören kann, und eile leise in unsere Mädchengemächer, wo die Kammerjungfern mit meiner Schwester am Kamin sitzen und Karten spielen. Als ich die Tür aufreiße und hineinstürze, verschwinden die Karten rasch vom Tisch, doch dann erkennen sie, wer da gekommen ist, und lachen vor Erleichterung, dass sie nicht erwischt worden sind: Denn in den Landen meines Bruders ist unverheirateten Frauen das Glücksspiel verboten.
»Ich gehe zu Bett, ich habe Kopfschmerzen. Man soll mich nicht stören«, erkläre ich hastig.
Amalie nickt. »Du kannst es ja versuchen«, sagt sie wissend. »Was hast du denn nun wieder angestellt?«
»Nichts«, erwidere ich. »Wie immer. Nichts.«
Rasch gehe ich durch die Zimmer in unsere Schlafkammer und werfe meine Kleider in die Truhe am Fußende des Bettes. Dann springe ich im Hemd ins Bett, ziehe die Vorhänge zu und decke mich bis zum Hals zu. Fröstelnd liege ich zwischen den kalten Leinenlaken und warte auf den Befehl, der mit Sicherheit kommen wird.
Nur wenige Augenblicke später öffnet Amalie die Tür. »Du sollst in Mutters Gemächer kommen«, sagt sie triumphierend.
»Sag ihr, dass ich krank bin. Du hättest sagen sollen, dass ich zu Bett gegangen bin.«
»Habe ich ja. Sie aber sagt, du sollst aufstehen, einen Umhang überwerfen und zu ihr kommen. Was hast du denn nun wieder angestellt?«
Finster erwidere ich ihren heiteren Blick. »Nichts.« Widerwillig stehe ich auf. »Nichts. Wie immer habe ich nichts getan.« Ich nehme meinen Umhang vom Haken hinter der Tür und schnüre die Bänder vom Kinn bis zu den Knien.
»Hast du ihm Widerworte gegeben?«, fragt Amalie hämisch. »Warum musst du auch immer mit ihm streiten?«
Ich gehe ohne ein weiteres Wort, durchquere das nun stille Mädchengemach und steige die Treppe hinab zu den Gemächern meiner Mutter, die im selben Turm liegen, nur ein Stockwerk tiefer.
Zunächst sieht es so aus, als wäre sie allein im Zimmer, doch dann sehe ich die halb geschlossene Tür ihrer Schlafkammer, und ich brauche ihn gar nicht zu hören oder zu sehen - ich weiß, dass er sich dort verborgen hält und zuschaut.
Als ich hereinkomme, hat sie mir den Rücken zugekehrt, und als sie sich umdreht, hält sie die Birkenrute in der Hand, und ihr Gesicht ist streng.
»Ich habe nichts getan«, sage ich sofort.
Sie seufzt gereizt. »Kind, ist das eine Art, ein Zimmer zu betreten?«
Ich senke meinen Kopf. »Hohe Frau Mutter«, sage ich leise und ehrerbietig.
»Ich bin unzufrieden mit dir«, sagt sie.
Nun schaue ich auf. »Das tut mir leid. Worin habe ich gefehlt?«
»Du bist berufen, eine heilige Pflicht zu tun. Du musst deinen Ehemann dem reformierten Bekenntnis zuführen.«
Ich nicke.
»Du bist in eine hohe Ehrenstellung berufen, und du musst deine Manieren bilden, damit du sie verdienst.«
Unbestreitbar. Wieder senke ich den Kopf.
»Du hast ein ungebärdiges Wesen«, fährt sie fort.
Nur zu wahr.
»Dir fehlen die rechten weiblichen Wesenszüge: Unterwerfung, Gehorsam, Pflichtgefühl.«
Wieder wahr.
»Und du hast, so fürchte ich, einen
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