Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
schreckliches Pech, ich glaube, kein Mädchen hat jemals so viel Pech gehabt wie ich. Da bin ich nun endlich vierzehn und könnte Ehrenjungfer werden, und dann stirbt einfach die Königin, und jahrelang wird der Hof Trauer tragen. Manchmal habe ich das Gefühl, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen, als wollten alle, dass ich als alte Jungfer ende!
Was für einen Sinn hat meine Schönheit, wenn ich niemals einem Edelmann begegne? Wie soll jemals ein Mann von mir bezaubert werden, wenn mich keiner zu Gesicht bekommt? Hätte ich meine Liebe nicht, meinen süßen, schönen Francis, dann würde ich völlig verzweifeln, ich ginge noch heute in die Themse.
Aber zum Glück habe ich wenigstens Francis, auf den ich hoffen kann, und eine Welt, um die es sich lohnt zu kämpfen. Und wenn Gott wirklich alles weiß und sieht, dann kann er mir meine Schönheit nur für eine glänzende Zukunft geschenkt haben. Er hat doch wohl Großes mit mir vor? Weil ich erst vierzehn bin und schon vollkommen? Gott in seiner Weisheit wird doch sicherlich nicht zulassen, dass ich in Lambeth versauere?
J ANE B OLEYN , B LICKLING H ALL , N ORFOLK , N OVEMBER 1539
Endlich kommt er doch. Als die Tage kürzer werden und ich schon beginne, einen weiteren Winter auf dem Land zu fürchten, kommt er: der Brief, den ich so ersehnt habe. Mir kommt es vor, als hätte ich ein Leben lang auf ihn gewartet. Nun kann mein Leben von Neuem beginnen. Ich werde wieder das Licht guter Kerzen genießen und die Wärme der Kohlenpfannen, ich werde wieder einem großen Kreis von Freunden und Rivalen angehören und gute Musik, gutes Essen und Tanz erleben. Ich werde an den Hof zurückbeordert, Gott sei Dank, und werde der neuen Königin dienen. Der Herzog, mein Patron und Mentor, hat mir wieder eine Stellung im Dienst der Königin besorgt. Ich werde Teil des Hofstaats sein. Ich werde der neuen Königin Anna von England dienen.
Der Name tönt wie eine Alarmglocke: Königin Anna - Königin Anne. Sicherlich durchlebten die Ratgeber seiner Majestät einen erschrockenen Moment, als sie den Namen der neuen Königin vernahmen. Sicherlich erinnerten sie sich, wie viel Unglück die frühere Anne über uns brachte. Wie sie den König entehrte und den Ruin ihrer Familie herbeiführte, gar nicht zu reden von meinem Verlust. Meinem unerträglichen Verlust. Aber nein, wie ich sehe, ist eine tote Königin am Hof rasch vergessen. Sobald die neue Königin Anna eingetroffen ist, wird die andere Anne, meine Königin Anne, meine Schwester, meine geliebte Freundin und Peinigerin, nicht mehr sein als eine ferne Erinnerung - meine Erinnerung. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich die Einzige im Lande, die sich erinnert. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich die Einzige, die beobachtet und überlegt, die Einzige, die mit einem Gedächtnis gestraft ist.
Ich träume oft von ihr. Ich träume, dass sie wieder jung ist, dass sie lacht und sich um nichts schert als ihr Vergnügen. Die Haube hat sie zurückgeschoben, um ihr dunkles Haar zu zeigen, ihre Ärmel sind modisch lang, ihr Akzent stets übertrieben französisch. Am Hals trägt sie ein perlfarbenes »B«, zum Zeichen, dass Englands Königin eine Boleyn ist, so wie ich. Ich träume, dass wir in einem sonnigen Garten lustwandeln, und George ist fröhlich. Er hat mich untergehakt, und Anne lächelt uns beide an. Ich träume, dass wir reicher werden, als wir uns je vorgestellt haben, dass wir Häuser besitzen, Schlösser und Ländereien. Sie reißen Klöster ab, damit wir Steine für unsere Häuser bekommen, sie schmelzen Kruzifixe ein und fertigen uns Schmuck daraus. Wir fischen in den Klosterteichen, und unsere Hunde toben auf dem Kirchanger. Äbte und Klostervorsteher geben für uns ihre Häuser auf, und sogar Heiligtümer sind nicht länger heilig, stattdessen werden wir angebetet. Die Ländereien werden uns zu unserem Nutz und Frommen übergeben. An diesem Punkt wache ich stets auf und liege noch lange wach, vor Angst zitternd. Dieser Traum ist so herrlich; doch beim Erwachen überfällt mich eisige Furcht.
Aber genug der Träume! Ich werde wieder bei Hofe sein. Wieder einmal werde ich die engste Vertraute einer Königin sein, die treueste Gefährtin in ihren Privatgemächern. Ich werde alles mitbekommen, alles wissen. Ich werde wieder im Mittelpunkt des Lebens stehen, ich werde Hofdame der neuen Königin Anna sein und ihr so treu dienen, wie ich den drei anderen Königinnen Heinrichs gedient habe. Wenn er seinen
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