Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
schamlosen Zug an dir«, sagt sie, nun sehr leise.
»Den habe ich nicht, Mutter«, entgegne ich ebenso leise. »Das ist nicht wahr.«
»Du hast ihn. Der König von England wird keine schamlose Frau dulden. Englands Königin muss eine Frau sein, deren Charakter makellos ist. Sie muss über jeden Vorwurf erhaben sein.«
»Hohe Frau Mutter, ich ...«
»Anna, gib Acht!« Sie ist lauter geworden, und endlich höre ich einen Klang von Ernst in ihrer Stimme. »Hör genau zu! Er ließ Lady Anne Boleyn hinrichten, weil sie untreu war, er beschuldigte sie, ihn mit dem halben Hof hintergangen zu haben, sogar mit ihrem eigenen Bruder. Er machte sie zur Königin, und dann stürzte er sie, ohne einen anderen Beweis oder Zeugen als seinen eigenen Willen. Er beschuldigte sie des Inzests und der Hexerei, zwei der schlimmsten Verbrechen! Er ist ein Mann, dem sein Ruf über alles geht. Die nächste Königin von England muss über jeden Zweifel erhaben sein. Wir können nicht für deine Sicherheit garantieren, wenn auch nur ein Wort gegen dich gesagt werden kann!«
»Hohe Frau ...«
»Küsse die Rute«, sagt sie, bevor ich etwas einwenden kann.
Ich berühre mit den Lippen den Stock, den sie mir hinhält. Hinter ihrer Kammertür höre ich ihn seufzen, ganz leise seufzen.
»Halte dich am Stuhl fest«, befiehlt sie.
Ich beuge mich vor und ergreife mit beiden Händen den Stuhlsitz. Feinfühlig, wie eine Dame, die ein Taschentuch entfaltet, greift sie den Saum meines Umhangs und hebt ihn über meine Hüften, dann mein Nachthemd. Mein Gesäß ist nun nackt, und wenn mein Bruder gerade in diesem Moment durch die halb offene Tür blickt, kann er mich sehen, zur Schau gestellt wie ein Mädchen in einem Hurenhaus. Die Gerte pfeift durch die Luft, dann spüre ich einen sengenden Schmerz an den Schenkeln. Ich schreie auf, dann beiße ich mir auf die Lippen. Mit knirschenden Zähnen warte ich auf den nächsten Streich. Das zischende Geräusch und wieder der beißende Schmerz, wie ein Schwerthieb in einem unwürdigen Duell. Zwei. Der nächste Hieb saust zu schnell nieder; gegen meinen Willen schreie ich auf. Nun kommen auch die Tränen, heiß und sprudelnd wie Blut.
»Steh gerade, Anna«, sagt sie mit kühler Stimme und zieht Hemd und Umhang hinab.
Die Tränen laufen mir übers Gesicht, ich höre mich schluchzen wie ein Kind.
»Geh auf dein Zimmer und lies die Bibel«, sagt sie. »Denke besonders an deine königliche Berufung. Cäsars Frau, Anna. Cäsars Frau.«
Ich muss vor ihr knicksen. Die ungeschickte Bewegung ruft von Neuem den Schmerz hervor. Ich wimmere wie ein geprügelter Hund. Ich gehe zur Tür und öffne sie. Der Wind reißt mir die Türklinke aus der Hand, und die Böe bläst die innere Tür zum Schlafgemach auf. Dort steht mein Bruder, halb verborgen, mit angespanntem Gesicht, als sei er derjenige gewesen, der die Birkenrutenschläge empfing. Seine Lippen sind fest zusammengepresst, als hätte er sich am Schreien hindern müssen. Einen schrecklichen Moment lang schaut er mich an, und ich lese auf seinem Gesicht ein verzweifeltes Verlangen. Ich schlage die Augen nieder, ich wende mich ab, als hätte ich ihn nicht gesehen, als wäre er gar nicht da. Was er auch von mir will, ich weiß, dass ich es nicht hören will. Ich stolpere aus dem Zimmer, mein Hemd klebt an den blutigen Striemen auf meinen Oberschenkeln. Ich will unbedingt fort von ihnen.
K ATHERINE , N ORFOLK H OUSE , L AMBETH , N OVEMBER 1539
»Ich werde dich meine Frau nennen.«
»Ich werde dich meinen Gemahl nennen.«
Es ist so dunkel, dass ich nicht sehen kann, ob er lächelt, aber ich spüre, wie er die Lippen verzieht, als er mich wieder küsst.
»Ich werde dir einen Ring kaufen, den kannst du an einer Kette tragen, dass ihn keiner sieht.«
»Ich werde dir eine Samtkappe schenken, mit Perlen bestickt.«
Er kichert.
»Um Himmels willen, gebt endlich Ruhe und lasst uns schlafen!«, tönt eine ärgerliche Stimme von der anderen Seite des Schlafsaales. Es ist wahrscheinlich Joan Bulmer. Sie vermisst nun diese Küsse, die ich auf meinen Lippen spüre, auf meinen Augenlidern, meinen Ohren, auf meinem Hals, meinen Brüsten, überall. Sie vermisst wohl diesen Liebhaber, der einmal der ihre war und nun mir gehört.
»Soll ich hinübergehen und ihr einen Gutenachtkuss geben?«, flüstert er.
»Pssst!«, mahne ich und verschließe ihm den Mund mit meinen Lippen.
Wir liegen in meinem Bett, in die Laken verwickelt, sind im schläfrigen »Danach«, Kleider
Weitere Kostenlose Bücher