Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
errichtet, leuchtende Fahnen flattern im Wind. Bewacht wird diese Zeltstadt von des Königs eigener Leibgarde, schmucken und hoch gewachsenen Männern, die in England eine Legende sind. Während wir auf den König warten, begeben wir uns in ein Zelt und trinken Wein und wärmen uns an den Kohlenbecken. Sie heizen mit Schwemmkohle - für mich nur das Beste, da ich bald ein Mitglied der königlichen Familie sein werde. Die Zeltböden sind mit dicken Teppichen ausgelegt, die Wände mit Gobelins und Seidenwandteppichen verhängt, damit keine Wärme verloren geht. Als die Zeit gekommen ist, als alle lächeln und schwatzen und fast so aufgeregt sind wie ich, steige ich auf mein Pferd und reite zu unserer Begegnung. Ich reite voller Hoffnung. Vielleicht wird er mir bei diesem zeremoniellen Treffen besser gefallen, vielleicht werde auch ich in seinen Augen schön sein.
Die hohen Bäume recken ihre kahlen, schwarzen Winteräste gen Himmel wie schwarze Fäden auf einem blauen Gobelin. Meile um Meile erstreckt sich die grüne, üppige Parklandschaft, glitzernd vom tauenden Reif, und am Himmel steht eine glänzende, fast brennend weiße Sonne. Überall drängen sich Menschen aus London hinter einer farbenprächtigen Absperrung. Sie lächeln und winken mir zu und rufen Segenssprüche, und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich nicht Anna, die mittlere Tochter des Herzogs von Kleve, weniger hübsch als Sybille, weniger bezaubernd als Amalie - sondern ich bin Anna, die einzige Anna. Sie haben mich ins Herz geschlossen. Diese seltsamen, reichen, bezaubernden, exzentrischen Menschen heißen mich willkommen, als sehnten sie sich nach einer guten Königin, einer ehrlichen Königin - und sie glauben wohl, dass ich so eine Königin sein kann.
Ich weiß sehr gut, dass ich kein englisches Mädchen bin wie die verstorbene Königin Jane, möge sie in Frieden ruhen. Aber seit ich den Hof und die mächtigen Familien Englands gesehen habe, fange ich an zu glauben, dass dies auch von Vorteil sein kann. Selbst ich als Ausländerin kann erkennen, dass die Seymours zurzeit die Favoriten sind und dass sie allzu rasch übermächtig werden könnten. Überall sind sie, diese Seymours, gut aussehend und eingebildet, immer betonend, dass ihr Kind des Königs einziger Sohn ist und der Erbe des Throns. Wäre ich König und wäre dies mein Hof, so würde ich sie äußerst wachsam beobachten. Wenn es ihnen erlaubt ist, den jungen Prinzen zu lenken, ihn aufgrund der Verwandtschaft zu seiner mütterlichen Familie zu beherrschen, dann werden sich die Waagschalen des Hofes stark zu ihren Gunsten senken. Mir kommt es vor, als ob der König in der Auswahl seiner Günstlinge nicht sehr sorgsam wäre. Ich mag erst halb so alt sein wie er, aber ich weiß sehr wohl, dass die Gunst eines Herrschers ausgewogen verteilt werden muss. Ich habe mein Leben lang unter der Fuchtel eines Lieblingssohnes gelebt, und ich weiß, welches Gift die Launen eines Herrschers bedeuten. Dieser König ist launenhaft; aber vielleicht kann ich das Machtgefüge seines Hofes etwas ausgeglichener machen, vielleicht kann ich seinem Sohn eine besonnene Stiefmutter sein, die Schmeichler und Höflinge von dem kleinen Jungen fernhält.
Ich weiß von der Entfremdung seiner Töchter, diesen bedauernswerten Mädchen. Ich hoffe so sehr, etwas für die kleine Elisabeth tun zu können, die ihre Mutter nie kennengelernt hat und ihr Leben unter dem Schatten der Schande verbringt. Vielleicht kann ich sie an den Hof holen, damit sie in meiner Nähe lebt, und sie mit ihrem Vater versöhnen. Auch Prinzessin Maria muss sehr einsam sein, mutterlos und mit dem Wissen, dass ihr Vater sie ablehnt. Ich kann ihr eine Freundin sein, ich kann ihre Angst vor dem König besiegen und sie als meine Verwandte an den Hof holen. Sie muss nicht »Stiefmutter« zu mir sagen, vielleicht könnte ich ihr eher eine Art Schwester sein. Wenigstens für die Kinder des Königs könnte ich Gutes bewirken. Und wenn ich empfange, wenn ich guter Hoffnung bin und wir ein eigenes Kind bekommen, dann werde ich England einen kleinen Prinzen schenken, einen rechtschaffenen jungen Mann, der helfen kann, die Spaltungen in diesem Land zu heilen.
In der Menge erhebt sich aufgeregtes Raunen, alle wenden den Blick von mir ab, um mich dann umso gebannter anzustarren. Der König kommt, und alle meine Ängste sind im Nu verflogen. Jetzt gibt er nicht vor, ein gewöhnlicher Mann zu sein, verbirgt seine majestätische Erscheinung nicht unter der Maske
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