Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
herzlichen Lächeln. Ich weiß, dass ich in diesem Land eine Aufgabe haben werde. Wenn ich auch nur einen Ketzer vor dem Scheiterhaufen retten kann, werde ich eine gute Königin sein, und ich bin sicher, dass ich meinen Einfluss nutzen kann, um diesem Land Frieden zu bringen.
Ich bekomme allmählich das Gefühl, dass ich Freunde in England habe. Während ich durch die Halle schaue und meine Hofdamen Jane Boleyn, die nette Lady Browne, Lady Margaret Douglas, die Nichte des Königs, und die kleine Katherine Howard erblicke, beginne ich zu spüren, dass dies tatsächlich meine neue Heimat werden kann. Der König wird mein wahrer Ehemann, seine Freunde und seine Kinder werden meine Familie, und ich könnte hier glücklich werden.
K ATHERINE , G REENWICH -P ALAST , 3. J ANUAR 1540
Genau wie ich immer geträumt habe, gibt es nach dem Dinner einen Ball, in einem wunderschönen Saal mit den schönsten jungen Männern der Welt. Und besser als in meinen kühnsten Träumen habe ich ein neues Kleid an, und an diesem Kleid steckt, so auffällig wie möglich, meine neue Goldbrosche, das Geschenk des Königs von England. Immer wieder stecke ich sie an eine andere Stelle, um alle Leute darauf aufmerksam zu machen. Nicht schlecht für meine ersten Tage bei Hofe, was? Der König auf seinem Thron blickt machtvoll und väterlich, und Lady Anna an seiner Seite ist so schön, wie es ihr eben möglich ist (so ein schauderhaftes Kleid!). Sie hätte den Zobel auch in die Themse werfen können, statt ihn an dieses Taftzelt nähen zu lassen. Ich bin so bekümmert wegen der Verschwendung eines so schönen Pelzes, dass meine Freude für einen Augenblick fast dahin ist.
Doch dann schaue ich mich im Saal um - nicht schamlos, sondern beiläufig, als hielte ich nach nichts Bestimmtem Ausschau - und sehe den ersten hübschen Jungen und dann den nächsten, ein halbes Dutzend gar, das ich gerne näher kennenlernen möchte. Manche sitzen zusammen am Tisch, es ist der Pagentisch, und jeder Einzelne von ihnen kommt aus einer guten Familie, die wohlhabend ist und den Schutz eines hohen Herren genießt. Dereham, mein armer Dereham, zählt nichts im Vergleich zu ihnen, und Henry Manox wäre gut genug, ihr Diener zu sein. Diese jungen Männer werden meine neuen Verehrer sein. Ich kann kaum die Augen von ihnen lassen.
Ich fange einen oder zwei Blicke auf und spüre sofort das Prickeln der Aufregung und Vorfreude, weil ich angeschaut, weil ich begehrt werde: Sie werden sich meinen Namen zuraunen, ich bekomme ein Briefchen zugesteckt, kurz, das ganze fröhliche Abenteuer von Flirt und Verführung beginnt von Neuem. Ein Junge wird sich nach meinem Namen erkundigen, wird mir etwas ausrichten lassen. Ich willige in ein Stelldichein ein, wir sehen einander in die Augen und reden dummes Zeug übers Tanzen, über die Jagd oder die Bankette. Dann küssen wir uns, dann küssen wir uns wieder, und es beginnt das langsame, köstliche Spiel der Verführung. Ich werde die Berührung und den Kuss eines neuen jungen Mannes kennenlernen, und ich werde mich Hals über Kopf neu verlieben.
Das Dinner ist köstlich, aber ich esse nur wenig, denn bei Hofe steht man unter ständiger Beobachtung, und ich möchte nicht gierig erscheinen. Unser Tisch ist zur Frontseite der Halle gerichtet, also ist es nur natürlich, dass ich nach vorn schaue und dem König bei seinem Mahl zusehe. In seinen prächtigen Gewändern und mit dem großen Goldkragen könnte man ihn mit einem der alten Bilder über einem Altar verwechseln: Ich meine ein Bild von Gott. Er ist so stattlich und so mächtig und so mit Gold und Edelsteinen behangen, dass er funkelt wie ein Berg von Kleinodien. Über seinem Thron ist ein Baldachin aus Goldbrokat aufgespannt, und zu beiden Seiten hängen bestickte Vorhänge herab. Jedes Gericht wird ihm auf Knien serviert. Selbst der Diener, der ihm die goldene Fingerschale reicht und die Hände abtrocknet, kniet vor dem König nieder. Dazu beugt er den Kopf, als wäre er so überirdisch, dass man ihm nicht in die Augen sehen darf.
Und als der König aufschaut und mich dabei ertappt, wie ich ihn anstarre, weiß ich nicht, was ich tun soll: wegschauen, knicksen, was auch immer. Ich bin so verwirrt, dass ich schüchtern lächele und dann halb den Blick abwende und dann doch wieder gucke, um zu sehen, ob er mich immer noch anschaut - und er tut es! Dann fällt mir auf, dass ich es genauso machen würde, wenn ich die Aufmerksamkeit eines Jungen erregen wollte, also werde
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