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Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Titel: Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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Nacht Vergnügen zu schenken, und morgen sollte sie lernen, ihm zu gehorchen. Übers Jahr sollte sie ihm möglichst einen Sohn gebären, sonst gebe ich keinen Deut um ihr Leben.

 
 
A NNA , G REENWICH -P ALAST , 6. J ANUAR 1540
 
    Einer nach dem anderen verlässt das Gemach, und wir bleiben im Schein der Kerzen und in unbehaglichem Schweigen zurück. Ich sage nichts. Es ist nicht an mir, das Schweigen zu brechen. Ich beherzige die Mahnung meiner Mutter, dass ich auf keinen Fall, egal, was auch geschieht, dem König Grund zu der Annahme geben darf, dass ich liederlich sei. Er hat mich erwählt, weil er glaubt, dass die Frauen von Kleve einen guten Charakter haben. Er hat eine manierliche, beherrschte, disziplinierte, evangelische Jungfrau erworben, und ich muss dieser Rolle entsprechen. Niemand hat mir gesagt, dass es vielleicht mein Leben kosten würde, sollte ich den König enttäuschen. Zwar bin ich immer wieder gewarnt worden, dass der König von England Leichtlebigkeit bei seiner Ehefrau nicht dulde, aber niemand hat mir gesagt, dass er mir das antun könnte, was er Anne Boleyn angetan hat. Niemand hat mich gewarnt, dass auch ich eines Tages gezwungen werden könnte, meinen Kopf auf den Richtblock zu legen, um für angebliche Vergehen enthauptet zu werden.
    Der König, mein Ehemann, der neben mir im Bett liegt, seufzt schwer, wie in großer Ermattung, und für einen Augenblick glaube ich, dass er jetzt vielleicht einschläft. Dann wäre dieser ermüdende Tag vorüber, und ich könnte morgen als verheiratete Frau erwachen und mein neues Leben als Königin von England beginnen. Einen Augenblick lang wage ich zu hoffen, dass meine Pflichten für heute erfüllt sind.
    Ich liege im Bett, wie mein Bruder es wünschen würde, starr und steif wie ein Püppchen. Meinen Bruder graut es vor meinem Körper: ein Grausen gepaart mit Faszination. Er befahl mir, hohe Kragen, große Hauben und schwere Schuhe zu tragen, damit er lediglich mein beschattetes Gesicht und meine Hände von den Handgelenken bis zu den Fingerspitzen sah. Hätte er mich einsperren können wie der osmanische Herrscher seine Ehefrauen, so hätte er es getan. Selbst mein Blick war ihm zu dreist, er wollte nicht, dass ich ihn direkt anschaue - wäre es ihm möglich gewesen, dann hätte er mir einen Schleier verordnet.
    Und doch hat er mich stets verfolgt. Ob ich in den Gemächern meiner Mutter nähte, ob ich im Hof nach den Pferden schaute, immer ertappte ich ihn, wie er mich anstarrte, mit einem Blick, der Zorn und ... ich weiß es nicht genau ... Verlangen ausdrückte? Begierde war es jedenfalls nicht. Er begehrte mich nie so, wie ein Mann eine Frau begehrt, das war mir klar. Aber er wollte mich auf gewisse Weise vollkommen beherrschen. Als ob er mich am liebsten hinuntergeschluckt hätte, damit ich ihn nicht mehr plagen konnte.
    Als wir noch Kinder waren, pflegte er uns alle drei zu quälen, Sybille, Amalie und mich. Sybille, drei Jahre älter als ich, konnte schnell genug rennen, um ihm zu entkommen. Amalie, das Nesthäkchen, brach sogleich in Tränen aus. Nur bei mir stieß er auf Widerstand. Ich schlug zwar nicht zurück, ich wehrte mich nicht, wenn er mich in den Ställen oder in einer dunklen Ecke in die Enge trieb, aber ich biss die Zähne zusammen und weinte nie. Auch wenn er meine dünnen Handgelenke quetschte, auch wenn er mir einen Stein an den Kopf warf, dass ich blutete, weinte ich nicht und flehte ihn nicht an, aufzuhören. Ich lernte es, Schweigen und Standhaftigkeit als stärkste Waffen gegen ihn einzusetzen. Seine Macht bestand darin, dass er mir wehtun konnte. Meine Macht war, mich so zu verhalten, als könnte er es nicht. Ich merkte, dass ich alles aushalten konnte, was ein Junge mir anzutun vermochte. Später lernte ich, dass ich alles überleben konnte, was ein Mann mir anzutun vermochte. Noch später begriff ich, dass mein Bruder ein Tyrann war, doch selbst das machte mir keine Angst mehr. Ich hatte die Kraft des Überlebens erlernt.
    Später erlebte ich, dass er gütig zu Amalie war und meiner Mutter freundlichen Respekt bezeugte. Da begriff ich, dass mein Eigensinn und meine Widersetzlichkeit zu der ständigen Reibung zwischen uns geführt hatten. Mein Bruder herrschte über meinen Vater: Er sperrte ihn in seinem eigenen Schlafzimmer ein, er riss die Macht an sich. Dies geschah mit dem Segen meiner Mutter und im Bewusstsein seiner eigenen Rechtschaffenheit. Er verbündete sich mit Sybilles Ehemann - zwei ehrgeizige Kleinfürsten

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