Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
und über dieses ungewohnte Gefühl der Freiheit lache. Ich möchte nicht allzu verändert erscheinen, mich nicht zu unbeschwert benehmen. Meine Mutter wäre von meiner Erscheinung schockiert, und ich möchte weder sie noch mein Land brüskieren.
Schon kommen junge Männer angeritten und bitten mich um mein Minnetuch, bevor sie in die Turnierschranken treten; sie verneigen sich tief und lächeln mich gewinnend an. Mit peinlicher Sorgfalt achte ich auf meine Würde und reiche es nur den Männern, welche die Farben des Königs tragen oder auf die er gewettet hat. In diesen Dingen ist Lady Rochford eine versierte Ratgeberin, sie wird mich davor bewahren, des Königs Missfallen zu erregen, und noch wichtiger: Sie wird mich davor bewahren, einen Skandal heraufzubeschwören. Ich vergesse nie, dass eine Königin von England über jeden Hauch eines Flirts erhaben sein muss. Ich vergesse nie, dass es auf einem Turnier geschah, als erst der eine und dann ein anderer Mann das Taschentuch der Königin trugen, und dass dieser Tag mit ihrer Verhaftung wegen Ehebruchs endete.
Dieser Hof scheint es auch vergessen zu haben, obwohl die Männer, welche die Beweise vortrugen und das Todesurteil sprachen, heute hier sind. Gut gelaunt rufen sie Befehle in die Arena hinunter, und wer überlebt hat, wie etwa Thomas Wyatt, lächelt mich an, als hätten nicht bereits drei Frauen auf meinem Platz gesessen.
Die Arena ist von einer bemalten Bande gesäumt und mit weiß und grün gestreiften Masten abgesteckt, und an jedem Mast flattert eine Fahne. Tausende sind hier, festlich gekleidet und begierig auf das Turnier. Händler rufen ihre Waren aus, Blumenmädchen trällern ihre Preise, Münzen klingen, wenn die Wetteinsätze von Hand zu Hand gehen. Wann immer ich in ihre Richtung schaue, lassen die Bürger mich hochleben, und ihre Frauen und Töchter winken mit den Taschentüchern und rufen mir »Gute Königin Anna!« zu, während ich mit erhobener Hand die Huldigungen entgegennehme. Die Männer werfen ihre Hüte in die Luft und brüllen meinen Namen, und unablässig strömen Adelige und reiche Grundbesitzer vom Lande zu meiner Loge, um mir die Hand zu küssen und mir ihre Ehefrauen vorzustellen. Sie sind eigens für das Turnier nach London gekommen.
Aus der Arena steigt ein Duft von tausend Blumensträußen und frisch gesprengtem, sauberem Sand auf. Wie goldene Gischt spritzt er hoch, als die Pferde im Galopp hereinpreschen, schlitternd zum Stehen kommen und sich aufbäumen. Die Ritter tragen prächtige, auf Hochglanz polierte Rüstungen, von denen manche mit Gravuren und eingelegten Edelmetallen verziert sind. Die Standarten der Ritter sind aus leuchtenden Seiden mit daraufgestickten Wahlsprüchen. Viele Männer kommen als geheimnisvolle Ritter, mit heruntergeklapptem Visier, und manche werden von einem Barden begleitet, der in einem Gedicht ihre tragische Geschichte vorträgt oder ihr Lied singt. Ich hatte mich vor einem Tag der Kämpfe gefürchtet und davor, dass ich nicht verstehen würde, was sich abspielt, aber dieses Schauspiel ähnelt einem prachtvollen Festzug: die schönen Pferde, die zwischen den Turnierschranken tänzeln, die gut aussehenden, stolzen Männer und die tausendköpfige Menge, die ihnen zujubelt.
Vor Beginn des Turniers wird zur Begrüßung der Ritter ein Maskenspiel aufgeführt, ein lebendes Bild. Der König höchstpersönlich ist der Mittelpunkt der Szene. Er ist gekleidet wie ein Tempelritter, und meine Ehrenjungfern bilden sein Gefolge. Sie sitzen kostümiert auf einem Wagen, der von Pferden in wallender blauer Seide gezogen wird. Die Pferde sollen das Meer darstellen, so viel ist mir klar, aber wer die Damen sein sollen, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Anhand des strahlenden Lächelns der kleinen Katherine Howard, die ganz vorn steht und ihre Hand schützend über ihre hellen Augen hält, kann ich mir denken, dass sie eine Meerjungfrau auf dem Ausguck darstellen soll, so etwas wie eine Loreley oder eine Sirene. Jedenfalls ist sie in weißen Musselin gehüllt, der Meeresgischt darstellen könnte, und ganz zufällig ist er heruntergerutscht, und ihre schöne Schulter schaut hervor - was den Eindruck erweckt, als tauche sie nackt aus dem Meer auf.
Wenn ich ihre Sprache ein bisschen besser beherrsche, dann werde ich sie ermahnen, besser auf ihren Ruf und ihre Sittsamkeit zu achten. Katherine hat keine Mutter mehr, sie starb, als sie noch ein kleines Kind war, und ihr Vater ist ein gewissenloser Verschwender,
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