Das Erbe Der Nibelungen
Bitte um Gold für das Kind - Liv war von jener bescheidenen Natur, die es nicht nach Einfluss drängte. Und so war sie doch genau die Frau, die Siegfried an seiner Seite wissen wollte. Er nahm sie und das Kind in seine Obhut, ohne darum gebeten worden zu sein, und zwischen den aufbrechenden Knospen eines warmen Frühlingsmorgens schritt er mit ihnen zum Boot, um die Heimat zu suchen, in der er Frieden zu finden hoffte.
Das ist die Geschichte, wie ich mich an sie erinnere und wie ich sie immer und immer wieder erzähle. Sie war auch das Ende der größeren, ewig gleichen Geschichte, die von den Göttern so geliebt wird, weil sie die Menschen so sehr leiden lässt. Fast hundert Winter hat die Welt seither erlebt. Siegfried starb noch vor Liv, doch alt und zufrieden, ihre vielen Kinder spielten am Hofe Islands glücklich in Frieden. Das Christentum versprach den Menschen Einigkeit, Stille und Bescheidenheit. Mit seiner wachsenden Macht verloren die alten Götter an Einfluss, knurrend mit sich selbst beschäftigt, schwindende Erinnerungen in den Köpfen immer weniger Menschen. Eine neue Zeit, eine neue Welt.
Doch es ist nicht weise, den Gang der Dinge für selbstverständlich
zu erachten, oder die Ruhe in Asgard für ewig. Wie der Wolf nur genug Hunger leiden muss, um auch dem größten Bären die Zähne zu fletschen, so brauchten die Nibelungen nur genügend Gier, um erneut das Schicksal zu fordern. Ich weiß es, bin ich doch einer von ihnen. Und obwohl wir eins sind, wie wir viele sind, ist mir nicht wohl dabei, was nun geschehen wird. Mag sein, dass ich zu lange unter den Menschen war, mir ihr Mitgefühl und ihre Herzlichkeit leichtfertig zu eigen gemacht habe. Aber mich schaudert, und die Seele wird mir schwer. Das Geschlecht Siegfrieds von Xanten wird ein weiteres Mal geprüft. Vielleicht zum letzten Mal, vielleicht zur letzten Schlacht.
Das Erbe der Nibelungen ist das Ende der Geschichte …
1
Die endliche Zeit des Friedens
Wir sollten zurück in den Hafen segeln«, schrie Bo ran, und der Wind riss ihm die Worte mit salzigem Wasser von den Lippen. »Sonst wird das Meer unser Boot verschlingen!« Wie zur Bestätigung hob die wütende See das kleine Fischerboot mit dem zerrissenen Segel in die Höhe, in Richtung pechschwarzer Wolken, und blitzte es herrisch an. Wellen und Gewitter zerrten und zogen am Holz, ließen es immer wieder splittrig bersten. Im Norden war Island nicht weit entfernt - in diesem Moment jedoch in unendlicher Ferne. Es war heller Tag, aber finster wie in tiefster Nacht.
Sigfinn lachte, als habe er seinen Gefährten nicht gehört. »Lasst uns ein letztes Mal das Netz auswerfen!« Den Bauch des Schiffes hatten sie schon mit Fischen von allerlei Art gefüllt, und im Reich herrschte wahrlich kein Hunger, aber Prinz Sigfinn ging es auch nicht um das hehre Handwerk - es ging um die Herausforderung. Je größer, desto besser. Je gefährlicher, desto ehrenvoller.
Die Männer, die den Prinzen auf diesem Ausflug begleiteten, befolgten seinen Befehl, wenn auch kopfschüttelnd
und skeptisch. Das grobe Netz war bei so einem Wetter wie ein überschwerer Anker, der dem Meer diente, das Schiff in die Tiefe zu ziehen. Für vernünftigen Fischfang waren die Strömungen vor der Küste viel zu stark.
»Dieses eine Mal noch, und heute Abend veranstalte ich ein Festmahl, das Geschichte schreiben wird!«, rief Sigfinn, dem ein Splitter eine Wunde in die Schulter gerissen hatte, aus der unter einem groben Streifen Leinenstoff Blut in den Regen floss. Es scherte ihn nicht.
»Mein Prinz, das kann ich nicht zulassen!«, protestierte Boran. »Im Namen Eures Vaters, des Königs, verlange ich die Heimkehr nach Burg Isenstein!«
Es überraschte Sigfinn, dass der bärenstarke und kugelrunde Boran sich so hasenfüßig gab. Hatten die Jahre bei Hofe ihn weich gemacht? Fürchtete er das Meer schon wie ein feindliches Heer? Als das Boot in ein Tal zwischen zwei riesigen Wellen stürzte, wurde ihm flau im Magen, doch der Prinz gab sich zuversichtlich: »Der Fang muss meiner würdig sein - und bisher haben wir nur Fisch, der allenfalls zur Suppe taugt, nicht aber für den Stecken über dem Feuer! Die edle Brynja soll sich nicht beschweren müssen.«
Ungefähr ein Dutzend Männer mühten sich derweil, das schwere Netz zu halten, welches das Meer ihnen aus den schwieligen Händen reißen wollte. Drei Mann packten das Ruder. Zwei standen am Bug, lotsten ihre Gefährten mit ausschweifenden Armbewegungen an Felsen
Weitere Kostenlose Bücher