Das Erbe der Pilgerin
lächelte. Dietmar hatte sich bislang absolut korrekt verhalten und kein junges Ding, sondern eine Hofdame der Königin, eine verheiratete Frau in mittlerem Alter, zur Minneherrin gewählt. Francine de Maricours nahm ihr Amt denn auch ernst und lauschte gelassen den endlosen Berichten des jungen Ritters über seine bis dahin eher belanglosen Heldentaten unter ihrem Zeichen. Sie riet zu Demut, Ehre und Treue, wie es ihre Pflicht war. Aber die aufmerksame Gerlin hatte durchaus Wohlgefallen an der schönen Gestalt des jungen Ritters in ihren Augen gesehen – und neben aller Verehrung auch Begierde im Blick ihres Sohnes. Sie versuchte, nicht allzu oft darüber nachzudenken. Wenn die erfahrene Frau den Jüngling tatsächlich in die Wonnen der körperlichen Liebe einweisen wollte …
Gerlin sah ihren Sohn zwar immer noch als zauberhaftes Kind, und es verursachte ihr Schwindel, sich ihn in den Armen einer Geliebten vorzustellen, aber im Grunde konnte ihm nichts Besseres passieren als eine sorglich geheim gehaltene Affäre mit einer höchst diskreten und erfahrenen Dame. Nicht auszudenken dagegen, wenn er sich in eine gleichaltrige junge Frau verliebte! Es würde all ihre Pläne gefährden, wenn er sich damit womöglich an eine sichere Stellung am französischen Hof band …
Ich versichere Euch jedoch, dass ich Lanze und Schwert zurzeit kaum ablege – beim nächsten Besuch musst Du mir ein zweites Pferd mitbringen, Pflegevater, Gawain war heute schon mittags müde!
Florís runzelte die Stirn. Gawain, ein prächtiger Rappe, war eigentlich kaum zu erschöpfen.
Schuld daran ist der neue Waffenmeister des Prinzen – der sich auf wahrhaft spektakuläre Weise eingeführt hat.
Vor einigen Tagen beehrte uns der König mit der Gnade, uns beim Waffenspiel zuzusehen, und mit ihm kam ein Ritter, der sein Visier zunächst geschlossen hielt. Er sei gekommen, erklärte er mit großer Geste, um den Herrn Ludwig, den Prinzen, auf die Probe zu stellen. Bislang habe er am Hofe des Königs Johann in England als Waffenmeister gedient, und dort glaube man, die stärksten Ritter der Christenheit zu besitzen.
Prinz Ludwig, ein Heißsporn, wie er ist, musste dem natürlich sofort widersprechen – und ich denke, dies war genau das, was der König bezweckte. Er lächelte denn auch huldvoll, als sich Herr Ludwig gleich zum Kampf stellte. Und wahrlich, ich habe den Prinzen selten so entschlossen in den Tjost reiten sehen. Allerdings habe ich auch noch niemanden so geschickt parieren sehen wie den unbekannten Ritter! Er warf Ludwig sogleich vom Pferd, aber er tat es mit Umsicht, ganz sicher beabsichtigte er nicht, ihn zu verletzen. Am Ende bat Ludwig selbst den Herrn Rüdiger um die Ehre, ihm als Waffenmeister zu dienen …
Gerlin unterbrach die Lektüre. »Rüdiger?«, fragte sie mit einem Lächeln. »Doch nicht gar mein Bruder?«
Florís nahm ihr das Schreiben aus der Hand.
Und das kam ihn hart an, meint doch unser Prinz, nun wirklich schon alle Finten zu beherrschen und das Schwert längst gut genug zu führen, um sich im ernsthaften Kampf zu beweisen. Aber Herr Rüdiger hat ihm gleich am Abend beim Nachtmahl versichert, ihm sei es als Jüngling nicht anders gegangen. Und dann habe ich eine Menge Neues über die Schwertleite meines Oheims erfahren und über Dich, liebe Mutter, und meinen seligen Vater, damals in Lauenstein. Denn Ihr ahnt es sicher schon: Unser neuer Waffenmeister ist Rüdiger von Falkenberg, einer der trefflichsten Ritter des Abendlandes.
»Sollte der nicht endlich sein Lehen in Falkenberg übernommen haben?« Florís ließ den Brief sinken. »Als dein Vater im vorletzten Jahr starb …«
Gerlin nickte. Ihr Blick umflorte sich ein wenig beim Gedenken an ihren Vater, dem sie stets nahegestanden hatte. Gott hatte ihn schließlich hochbetagt zu sich genommen, woraufhin Rüdiger auch tatsächlich widerwillig die Burg aufsuchte. Er war Peregrin von Falkenbergs ältester Sohn und damit sein Erbe.
»Weißt du’s nicht mehr? Er hat’s gerade ein halbes Jahr ausgehalten«, erinnerte sie nun ihren Mann. »Und dann hat er unserem jüngeren Bruder die Burg allein überlassen. Das Leben eines Landadligen ist nichts für Rüdiger. Der will noch ein paar Abenteuer erleben.«
»In deren Verlauf er sein Leben irgendwann lassen wird«, brummte Florís.
Er war weiland nicht nur Dietrich von Lauensteins, sondern auch Rüdigers Waffenmeister gewesen, hatte den Jungen schließlich selbst zum Ritter geschlagen und kannte sein mutwilliges
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