Das Erbe der Pilgerin
Tochter. Aber Abram befürchtete, dass es schon zu spät war, irgendetwas abzuwenden. Rüdiger hatte am Abend zuvor bemerkt, dass Dietmar säumig war – und wohlweislich keine Fragen gestellt. Auf keinen Fall wollte er einen ernsthaften Streit mit seinem Neffen riskieren, nachdem sich die Wogen ja nun wieder halbwegs geglättet hatten. Rüdiger nahm an, dass Dietmar ein paar Becher mit einem anderen jungen Ritter geteilt und dabei Liebesfreud und -leid ausgetauscht hatte.
Abram, der als Kaufmann weit besser in den Augen seines Gegenübers lesen konnte als sein adliger Freund, ging allerdings von Schlimmerem aus. Am Tag zuvor hatte Dietmar die kleine Ornemünde nur von fern errötend angeschmachtet, jetzt blinzelte sie dem jungen Ritter scheu, aber selig zurück. Und dann das Seidenband, das er um sein Handgelenk geschlungen hatte! Er wollte es sicher gleich zur Hand haben, wenn es galt, es um seine Lanze zu winden. Hatte er bei seinem letzten Tjost nicht noch das Zeichen einer anderen Dame in den Kampf geführt? Abram war sich sicher, dass Dietmar Sophia getroffen hatte. Und nun war Sophia ebenso verliebt wie er. Das Ganze roch nach Schwierigkeiten. Es würde sehr viel List und Geschick fordern, Dietmar heil über die nächsten Tage zu bringen.
Durch die nächsten Kämpfe gelangte Dietmar allerdings erst mal mit Bravour. Beflügelt von Sophias Seidenband, das an seiner Lanze befestigt war, schlug er seine Gegner gekonnt aus dem Feld. Der zweite gab schon nach dem Tjost auf und stellte sich gar nicht erst zum Schwertkampf. Dabei strahlte Dietmar Sophia jetzt ohne Scham an, wenn er vor und nach dem Kampf vor der Ehrentribüne Aufstellung nahm. Seine Freunde und Beschützer konnten nur hoffen, dass Luitgart schon betrunken genug war, um es nicht zu bemerken. Roland von Ornemünde war die Anwesenheit des wahren Lauensteiner Erben jetzt jedenfalls kein Geheimnis mehr. Die Anzahl der Ritter, die noch im Wettbewerb waren, wurde zusehends überschaubar, und bei Dietmars zweitem Kampf an diesem Tag gehörte Roland denn auch zu den Zuschauern.
»Der freut sich schon darauf, ihm den Kopf einzuschlagen«, seufzte Rüdiger. »Eine bessere Gelegenheit als ein ›Unfall‹ bei einem Turnier könnte ihm gar nicht passieren. Und Dietmar fühlt sich völlig unbesiegbar.«
»Das kannst du nun aber ändern«, sagte Abram trocken. Er hatte sich mit einem der Herolde unterhalten und dabei beiläufig die Reihenfolge der Kämpfer für den nächsten Tag erfragt. »Beim vierten Treffen am morgigen Tag werden sich Herr Dietmar von Ornemünde und Herr Rüdiger von Falkenberg gegenüberstehen. Du kannst bis morgen drüber nachdenken, ob du deinen Neffen aus dem Feld schlägst oder gewinnen lässt …«
Dietmar erfragte gar nicht erst, wer am nächsten Tag seine Gegner sein würden, und er war auch nicht traurig darüber, dass er an diesem Abend nicht unter den ausgezeichneten Rittern war. Inzwischen wurde härter gekämpft, und die gestandenen Kämpen machten die Preise unter sich aus. Der Bischof konnte gerade noch verhindern, dass einer davon an Roland von Ornemünde ging. Wobei er sich kaum Illusionen machte: Wenn der Ritter weiter derart erfolgreich kämpfte, würde er ihn am nächsten Tag an der Tafel des Königs dulden müssen. Es sei denn, er riskierte einen Eklat.
Siegfried von Eppstein trug in diesen Tagen schwer an seinem Amt als Fürstbischof – und Turnierveranstalter. Auch ihm war schließlich bewusst, dass hier zwei Ornemünder im Wettbewerb standen. Dabei rang er mit seinem Gewissen: Sollte er das Losglück manipulieren und die beiden solange wie möglich voneinander fernhalten? Oder ließ er den Dingen seinen Lauf und konnte dann vielleicht irgendwann einen über den Unfalltod seines Verwandten zwar untröstlichen, jetzt aber unangefochtenen Burgherrn von Lauenstein in seinem Amt bestätigen?
Dietmar machte sich über all das keine Sorgen. Am Abend wartete er ungeduldig ab, bis hinter den Fenstern von Sophias Herberge das Licht verlöschte. Dann holte er eine geliehene Laute hervor und spielte ein einfaches Liebeslied. Er hatte nach dem Turnier stundenlang für diesen Auftritt geübt, und Sophia rührte er wie erwartet zu Tränen. Die beiden tauschten weitere Artigkeiten – Sophia rühmte Dietmars Kampfkraft und Dietmar Sophias Schönheit. Dietmar hatte den Troubadouren im Lager der Ritter ein paar schöne Worte abgelauscht und Sophia wiederholte die lobenden Bemerkungen des Königs und des Grafen von Toulouse, die das
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