Das Erbe der Pilgerin
auch ziemlich überrascht, dass Rüdiger heftig parierte, als er mit vollem Schwung auf ihn zupreschte, die Lanze in der Absicht eingelegt, Rüdiger an der Hüfte oder am Bein zu treffen oder damit aus dem Steigbügel und dem Gleichgewicht zu bringen. Bei einem so erfahrenen Kämpfer bot dieses Manöver zwar kaum Aussicht auf Erfolg, aber wenn Rüdiger sich fallen lassen wollte, so würde er sich dabei kaum wehtun.
Rüdiger dachte allerdings nicht daran, sich vom Pferd tjosten zu lassen. Stattdessen visierte er Dietmars Schulter an. Ein Treffer würde ihm Punkte bringen, Dietmar würde auch ein paar einheimsen. Rüdiger gedachte nicht, seinen Neffen vom Pferd zu werfen, sondern den Tjost unentschieden ausgehen zu lassen. Allerdings hatte er die Wucht nicht eingerechnet, mit der Dietmars Hengst auf ihn zustürmte, und er brauchte obendrein mehr Geschick als erwartet, dem Stoß des jungen Mannes auszuweichen. So erfolgte sein eigener Angriff ungeplant heftig. Dietmar wurde schmerzhaft getroffen und schwankte im Sattel, als die Ritter sich trennten. Rüdiger fluchte in sein Visier. Das sollte nicht noch einmal passieren.
Aber dann geschah genau das. Dietmar ritt wieder mit voller Kraft an, obwohl es ihm erkennbar schwerfiel, den Schild zu halten, seine linke Schulter war offensichtlich lädiert. Diesmal richtete er den Stoß gegen Rüdigers Brust, aber Rüdiger verwandte seine eigene Lanze, um ihn abzuwenden. Dabei geriet sein Treffer zu hoch und erwischte Dietmar noch einmal an der schon angeschlagenen linken Schulter. Der junge Ritter verlor den Halt und ging zu Boden. Rüdiger bemerkte besorgt, dass er Schwierigkeiten hatte, sich aufzurichten.
»Tut mir leid!«, wisperte er seinem Neffen zu, als er abstieg, um sich ihm zum Schwertkampf zu stellen. »Das war härter, als ich wollte. Aber willst du wirklich weitermachen? Wenn du Schmerzen hast …«
Dietmar antwortete nicht, sondern blitzte den Oheim nur wütend an. Der junge Ritter war in seiner Ehre gekränkt, er würde jetzt alles tun, um die Scharte auszuwetzen. Rüdiger dachte ernstlich daran, sein Holzschwert an Dietmars Rüstung abrutschen und bersten zu lassen. Vielleicht, nachdem er dem jungen Mann noch ein oder zwei Treffer ermöglicht hätte, ein Sieg durch reines Glück hatte schließlich immer einen bitteren Beigeschmack. Aber dann rief er sich zur Ordnung. Dietmars nächster Gegner mochte der Ornemünder sein. Und der kannte keine Gnade!
Rüdiger wehrte die Angriffe seines Neffen also entschlossen ab, erlaubte ihm aber trotzdem noch ein oder zwei erfolgreiche Vorstöße. Und dann war es wieder diese freundliche Strategie, die Dietmars Niederlage schlimmer machte, als sie hätte sein müssen. Von den Lanzenstößen geschwächt – aber auch ermutigt von den ersten Treffern – vernachlässigte der junge Ritter seine Deckung. Ein Schwertschlag seines Oheims, der eigentlich vom Schild abgefangen werden sollte, traf ihn deshalb schwer. Dietmar fiel zu Boden und ausgerechnet erneut auf die schon angeschlagene Schulter. Diesmal stand er nicht wieder auf, und Rüdiger wurde zum Sieger des Treffens erklärt.
Besorgt lüftete er dann das Visier seines Neffen. Dietmar schien sich beim Fallen auch den Kopf gestoßen zu haben. Blut lief über sein Gesicht. Es kam jedoch nur aus einer Platzwunde, und der junge Ritter war bei Bewusstsein. Aber die Herolde riefen doch nach einer Trage. Dietmar verließ den Turnierplatz nicht nur als Verlierer, sondern nicht einmal auf eigenen Beinen …
»Er wird mich sein Leben lang hassen«, seufzte Rüdiger, als er gleich darauf auf Hansi und Abram traf, die ihn gleichermaßen betroffen anblickten. »Aber ich konnte nichts machen, es ging alles schief, was nur eben schiefgehen konnte.«
»Die Sterne«, grinste Abram und hob ergeben die Hände zum Himmel.
»Wenn der Kleine mal der Einzige ist, der dich hasst, Herr Rüdiger«, meinte dagegen Hansi und wies mit dem Kinn auf Roland von Ornemünde. Der Ritter hatte dem Kampf zugesehen und fixierte nun Rüdiger mit blanker Wut. »Dem hast schließlich auch die Pläne vermasselt.«
Rüdiger nickte ergeben. »Tja«, sagte er. »Und ich werde es gleich noch einmal tun. Mein nächster Gegner ist Rungholt von Bayern. Den hab ich schon dreimal vom Pferd geholt. Aber heute wird er zum ersten Mal das Glück haben, mich zu besiegen … Dies Turnier ist zu Ende, Freunde. Ich geh nicht das Risiko ein, mich mit Roland zu schlagen. Aber das nächste Mal kommt er mir nicht davon. Das nächste
Weitere Kostenlose Bücher