Das Erbe der Pilgerin
und wandte sich dann an die Gräfin und Geneviève.
»Ich kann nichts Gravierendes feststellen«, meinte er gelassen. »Sie hat sich nichts gebrochen, sie verliert kein Blut, ihre Augen reagieren normal. Die Wunde ist allerdings ein wenig entzündet, und ich sollte sie vielleicht nähen …«
»Nähen?«, fragte die Gräfin entsetzt.
»Diese Platzwunde würde auch so heilen, aber es geht schneller und besser, wenn sie künstlich verschlossen wird – da bleibt nur eine schmale Narbe zurück. Ich denke, das Mädchen hat einfach einen Schock erlitten, dazu einen sicher schweren Schlag an den Kopf bekommen. Da bleibt man schon mal einige Stunden ohne Bewusstsein. Vielleicht flüchtet es sich geradezu in die Bewusstlosigkeit. Der Ritter hat es ja wohl zu Tode geängstigt, dazu das durchgehende Pferd … Wir werden die Wunde jetzt verschließen und ordentlich verbinden, dann geben wir dem Mädchen einen Trank gegen das Fieber und lassen es schlafen. Ach ja, und falls Euch etwas einfällt, Gräfin, oder dir, Geneviève, was Sophia besonders am Herzen liegt … vielleicht ein Lied, das sie liebt, oder ein Gegenstand, an dem sie hängt, dann solltet Ihr es ihr vorsingen oder ihr in die Hand geben. Es wäre auch nichts gegen den Besuch eines jungen Herrn einzuwenden, wenn es da einen Ritter gäbe, den sie bewundert …«
»Da gibt es keinen!«
Die Antwort der Gräfin und Genevièves kam wie aus einem Munde. Der Arzt warf ihnen einen halb vorwurfsvollen, halb belustigten Blick zu. Dann packte er Nadel und Faden aus, um die Wunde zu nähen. Die Gräfin ging ihm hochinteressiert zur Hand. Adligen Frauen oblag die Pflege verwundeter Ritter, aber leider stattete man sie mit nur wenig Wissen dazu aus. Die Idee, eine Wunde zu nähen wie den Riss in einem Kleid, faszinierte die Dame.
Geneviève kämpfte derweil mit sich selbst. Sie wusste nichts Genaues über die Liebe zwischen Sophia und Dietmar – ihr Stolz und ihr Glaube verboten ihr das Teilen amouröser Geheimnisse, das junge Mädchen sonst meist verband, wenn sie so eng zusammenlebten wie Sophia und Geneviève. Aber sie wusste, dass Sophia ein kleines Schmuckstück wie ihren Augapfel hütete. Sie trug es nie, vielleicht war es in irgendeiner Hinsicht kompromittierend. Aber es lag mitunter in ihrer Hand, wenn sie einschlief, oder sie spielte damit, wenn sie träumend aus dem Fenster sah. Geneviève wusste, wo Sophia das Medaillon versteckte und holte es.
Ob es wirklich half, wenn sie es jetzt heraussuchte und dem Mädchen um den Hals legte? Schließlich entschied sie, dass es zumindest nicht schaden konnte. Als der Arzt seine Arbeit beendet hatte, hob sie behutsam Sophias nun bandagierten Kopf an und schloss die schmale goldene Kette.
»Was ist das?«, fragte die Gräfin.
Geneviève zuckte die Schultern. »Ein Heiligenbild«, meinte sie. »Ich glaube, ein Geschenk ihrer Mutter. Sie … liebt es …«
Das kurze Gespräch machte den Medikus auf das Medaillon aufmerksam. Seine Augen weiteten sich, als er es anhob und betastete. Geneviève hatte Angst, er würde es öffnen und womöglich das Bild eines Ritters darin vorfinden. Aber er legte es nur vorsichtig zurück.
»Ein … ein schönes Stück …«, sagte er und erhob sich. »Ich … ich würde mich jetzt gern ein wenig ausruhen, bevor ich zurückreite. Ich denke, ich muss nicht unbedingt bleiben, bis sie aufwacht. Ich habe keinen Zweifel, dass sie sich erholt.«
Geneviève musterte Gérôme besorgt. »Ihr wirkt tatsächlich etwas blass, Herr. Kann ich irgendetwas für Euch tun?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nur ein wenig Ruhe, Kind, und bring mir einen Becher Wein …«
Die Gräfin erhob sich. »Ich werde Euch einen Raum anweisen und Erfrischungen bringen lassen. Aber wollt Ihr wirklich gleich wieder fort? Mögt Ihr nicht die Abendmesse mit uns besuchen? Wir werden auch ein Bankett haben heute Nacht …«
Der Medikus schüttelte den Kopf. »Ich danke Euch, Herrin, aber ich habe Verpflichtungen … Wenn ich nun … ich würde mich gern von den Überraschungen erholen, die Gott uns immer wieder bereitet …«
»Er ist ein bisschen seltsam, nicht wahr?«, fragte die Gräfin stirnrunzelnd in Genevièves Richtung. »Aber unzweifelhaft begnadet! Ich habe so etwas nie gesehen. Deutete er nicht auch an, er habe im Heiligen Land gedient? Als Arzt lernt man sicher vieles während eines Kreuzzuges. Ich werde mich jetzt um ihn kümmern. Und du, Geneviève, wenn du es über dich bringst – da ist ihre Laute.
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