Das Erbe der Pilgerin
Grenzen. Aber anfänglich konnte ich nicht zugeben, wer ich war, und dann … es hätte meine Freunde und Lebensretter verletzt, wäre ich plötzlich mit der Wahrheit herausgekommen. Wobei mich niemand zwingt, in Montalban als Christ zu leben. Man fragt einfach nicht, und das ist gut so.«
»Aber wie bist du nach Montalban gekommen?«, hakte Abram nach. »Wir sahen dich unter dem Schwert dieses Ritters vor dem jüdischen Badehaus fallen. Man erkannte dich als Juden – wir sahen keine Chance für dich zu entkommen, selbst wenn du nur leicht verletzt gewesen wärest.«
Salomon holte tief Luft. »Ich war recht schwer verletzt.« Er wies auf seine immer noch leicht herabhängende linke Schulter. »Und natürlich voller Blut. Man muss mich für tot gehalten haben. Als ich zu mir kam, lag ich auf der Ladefläche eines stinkenden Karrens – dem des Totengräbers, nehme ich an. Aber er fuhr nicht sofort zum Friedhof. Inzwischen war der Mob von halb Paris auf den Beinen und auf der Jagd nach Juden. Frag mich nicht, wie sich das so schnell herumsprach, und woher man so rasch wusste, wer sich wo versteckt hielt. Jedenfalls zerrte man Männer und Frauen aus ihren Häusern in Richtung des Port en Grève. Viele von ihnen wehrten sich – vielleicht, weil sie wirklich hofften, dem Tod zu entgehen, oder auch nur, weil sie es vorzogen, gleich auf der Straße abgeschlachtet statt verbrannt zu werden. Der Mob machte kurzen Prozess mit ihnen, sehr bald warf man verstümmelte Leichen auf meinen Karren. Dabei machte ich wohl den Fehler, mich zu rühren. Jemand stellte fest, dass ich noch am Leben war, zerrte mich vom Karren … Als ich dann das nächste Mal erwachte, lag ich mit mörderischen Schmerzen am ganzen Körper inmitten eines Stapels ermordeter Juden. Der Totengräber hatte mich wohl wieder aufgelesen und seine Last dann einfach am Rand des früheren Judenfriedhofs abgeladen. Wahrscheinlich wollte er uns dort später verscharren. Ich musste schleunigst weg, wenn ich nicht auch noch lebendig begraben werden wollte. Also schleppte ich mich zur nächsten Straße. Sie führte nach Süden.«
»Du hast gehofft, dass dich jemand findet?«, fragte Abram. »Aber die meisten Christen hätten dir doch gleich den Rest gegeben.«
Salomon zuckte die Schultern. »Ich habe nicht viel gedacht, ich wollte nur fort von all dem Blut – und eine andere Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Ich war schwer verletzt, am ganzen Körper zerschunden, das Bein zerschmettert. Mehr als kriechen konnte ich nicht, und damit kommt man bekanntlich nicht weit.«
Abram verzog ungläubig das Gesicht. »Aber dann geschah ein Wunder?«, fragte er.
Salomon zog die Brauen hoch. »Wenn du es so nennen willst … Es kam eine Reisegesellschaft vorbei. Eine kleine Gruppe zum Schutz einer adligen Dame: Gabrielle de Montalban.«
»Die Mutter unserer kleinen Geneviève!« Abram verstand die Zusammenhänge.
Salomon nickte. »Genau. Gabrielle stammte aus Paris, sie war sogar aus königlichem Geblüt. Pierre de Montalban kann es bis heute nicht fassen, dass er sie für sich gewinnen konnte, schließlich ist er von eher niederem Adel. Aber Gabrielle war wohl als Mädchen am Hofe des Königs durch einen der Troubadoure an den Glauben der Albigenser geraten, hatte sich dafür begeistert – nun ja, und ihre Eltern standen dann vor dem Problem, eine kleine Häretikerin im Haus zu haben, die mit einem Katholiken nicht zu verheiraten war. Du kennst Geneviève – Gabrielle war genauso. Fanatisch, unerschrocken – bereit, ihr Leben zu riskieren für ihre Religion. Nicht auszudenken, dass sie nach der Zwangsheirat mit einem königstreuen Ritter an katholischen Höfen missioniert hätte. Aber dann kam Pierre de Montalban – nicht von höchstem Adel, aber auch kein vollständiger Missgriff. Gabrielles Glaube war ihm erst egal, später ließ er sich dann sogar überzeugen und ist heute selbst Albigenser. Jedenfalls verheiratete man Gabrielle in Frieden nach Okzitanien – sie hielt jedoch Kontakt zu ihrer Familie. Sie war Geneviève wirklich sehr ähnlich, weißt du.« Salomon lächelte bei dem Gedanken an seine Lebensretterin. »Auch so heißblütig, leidenschaftlich, der kleine Hof von Montalban war ihr immer zu langweilig. Also reiste sie ab und an nach Paris – und auf dem Rückweg nach Toulouse fand sie mich. Blutend und zerschunden auf der Straße.«
»Und wie meinte sie, bist du dorthin gekommen?«, erkundigte sich Abram. »Nach dem Pogrom, unmittelbar neben dem alten
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