Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
lächelte wieder. »Du hast lange geschlafen«, erklärte sie und fügte in einer Weise hinzu, die keinen Widerspruch duldete: »Jetzt ist die Zeit zu essen.« Damit wandte sie sich um und verschwand hinter dem Fellvorhang.
Faizah seufzte. Diese Oona war eine seltsame Frau. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihr folgen solle, doch dann war der Hunger stärker als die Neugierde, und sie verschob die Suche nach Antworten auf eine der ›späteren Zeiten‹.
Der durchdringende Schrei eines Falken riss Keelin aus dem Schlaf Blitzartig rollte er sich zur Seite und zog noch in derselben Bewegung das Kurzschwert.
Der finstere Schatten, der sich gerade über ihn beugte, zuckte erschrocken zurück. Blankes Metall blitzte im Mondlicht, als er zu einem tödlichen Streich ausholte. Doch in diesem Augenblick stürzte sich der Falke mit schrillem Pfiff von hinten auf ihn, krallte sich flügelschlagend in seinem Nacken fest und hieb mit dem scharfen Schnabel wütend auf ihn ein.
Vor Schmerz und Schrecken sprang der Dunkelgewandete auf und versuchte den tobenden Falken zu packen. Doch bevor er ihn fassen konnte, war dieser schon wieder in der Luft und griff erneut an. Dabei stieß er unablässig laute, schrille Pfiffe aus, die auch die anderen weckten.
In einer ansatzlosen Bewegung fuhr der nächtliche Angreifer herum und stürmte davon, gefolgt von dem Falken, der sich aus der Höhe wieder und wieder auf ihn stürzte.
Keelin sprang auf und setzte dem Flüchtenden nach. Alle Müdigkeit war verflogen. Doch der Angreifer war schnell. Gepeinigt von den hartnäckigen Angriffen des Falken, lief er über den mondbeschienenen Platz vor der Höhle, um zwischen den Felsen Deckung zu suchen. Keelin hörte Bayard hinter sich fluchen und vernahm Mayleas aufgeregte Rufe, doch er achtete nicht darauf und setzte die Verfolgung unbeirrt fort.
Plötzlich sprang eine zweite Gestalt unmittelbar vor ihm aus dem Schatten eines mannshohen Felsens und stellte sich dem Flüchtenden in den Weg.
Eine Falle! Kurz blitzte die Frage, wie er sich zweier Gegner erwehren solle, in Keelins Gedanken auf. Dann ging alles sehr schnell.
Ein Licht flammte auf. Begleitet von einem zischenden Geräusch, wirbelte es durch die Luft, und Keelin sah, wie der Flüchtende abwehrend den Arm hob. Das Licht schlang sich um seinen Arm, doch er entwand dem Unbekannten die Waffe durch eine geschickte Drehung, schleuderte ihn zu Boden und verschwand, gejagt von dem Falken, in der Dunkelheit zwischen den hoch aufragenden Felsen.
Keelin lief ihm noch ein paar Schritte nach, gab dann aber auf. Eine Wolke hatte sich jäh vor die Monde geschoben. Da er kaum etwas erkennen konnte, war das Wagnis zu groß, zwischen den Felsen in ein blankes Schwert zu laufen. In der Dunkelheit war es ihm unmöglich, Bilder von Horus zu empfangen, da dessen Augen in der Nacht nur schemenhafte Umrisse erkennen konnten. Er sandte seinem Falken, dessen zornige Pfiffe noch immer durch die Nacht hallten, einen Gedankenruf, der ihn zurückholen sollte, und kehrte zu dem Fremden zurück, der noch immer keuchend auf der harten Erde kauerte.
»Wer bist du?«, herrschte Keelin ihn an.
Der Fremde antwortete nicht.
»Rede!« Unfähig, die aufgestaute Wut zu unterdrücken, packte Keelin ihn am Arm und zerrte ihn unsanft in die Höhe. »Nenne deinen Namen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, riss er dem Unbekannten die Kapuze vom Kopf – und erstarrte. Unglauben und Verwunderung mischten sich mit unterdrückter Freude und huschten in rascher Folge über sein Gesicht, als er erkannte, wer ihm da gegenüberstand.
Abbas?
Keelin fehlten die Worte. Dann lachte er, schloss den Freund in die Arme und rief »Gilians heilige Feder, was tust du denn hier? Bist du von Sinnen? Um ein Haar hätte ich dich umgebracht.«
»Ich …«
»Keelin!« Bayards Ruf unterbrach Abbas.
Keelin spürte sofort, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, und fuhr herum. Doch es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. »Zum Reden ist später noch Zeit«, sagte er an Abbas gewandt und fasste den Freund an der Schulter. »Komm mit, hier sind wir nicht mehr sicher.«
In der Höhle bot sich Keelin ein grauenhafter Anblick. Salih, Cirdan und Darval waren tot. Der junge Onurkrieger lag mit durchtrennter Kehle neben den beiden Fath, die auch eine klaffende Wunde am Hals davongetragen hatten. Die Gesichter waren blutüberströmt und die Augen in ungläubigem Entsetzen erstarrt, als hätte der Tod sie völlig
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