Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
gedacht, bei den Mahoui handle es sich um eine besondere Pferderasse, doch nun …
»Die Mahoui sind Vögel?«, fragte sie fassungslos.
»Sie sehen so aus, das stimmt.« Oona nickte. »Aber sie können nicht fliegen.« Sie fasste Faizah am Arm. »Komm!«, sagte sie fröhlich und lief mit ihr den schmalen Weg hinunter, der vom Tunneleingang zur Talsohle führte. »Wir sehen sie uns aus der Nähe an.«
Auf dem Weg ins Tal stellte Faizah erstaunt fest, dass es in der Felswand viele weitere Eingänge gab, die einander ähnelten. Schmale, in den Fels geschlagene Rampen führten von dort ins Tal hinab. In einigen Eingängen sah sie Kinder stehen, die neugierig zu ihr hinüberschauten und eilig in den Tunnel zurückliefen, als sie ihren Blick bemerkten.
Oona stieß indes immer wieder lockende Pfiffe aus, die den Mahoui galten. Die Tiere in der Nähe hoben den Kopf und musterten sie aufmerksam, dann setzten sich die Ersten in Bewegung und kamen mit seltsam federndem Schritt auf Oona zugelaufen, die zu Faizahs großem Erstaunen furchtlos auf die riesigen Vögel zuging. Die Mahoui trugen ein rotbraunes Federkleid. Kopf, Schwanz und Flügelspitzen waren mit einem schillernd blauen Gefieder bedeckt, das am Schwarz lang und kräftig war, an den verkümmerten Flügeln und auf dem Kopf hingegen so weich und bauschig wirkte wie die Federn in Oonas Haaren.
Von oben hatten die Mahoui schon sehr groß ausgesehen, aber erst aus der Nähe war zu erkennen, wie groß sie wirklich waren. Ein ausgewachsener Uzoma mochte den majestätischen Vögeln gerade bis zum Nacken reichen; die sehr viel kleinere Oona hingegen wirkte seltsam verloren angesichts der massigen Vögel, die nun in einem dicht gedrängten Halbkreis vor ihr standen.
Faizah wich ein Stück zurück. Die großen gebogenen Schnäbel mit den roten Wülsten und die klauenbewehrten Füße mit den drei Zehen machten ihr Angst.
»Komm zu mir!«, hörte sie Oona rufen. »Die Mahoui sind zahm. Sie tun dir nichts.«
Faizah schüttelte den Kopf, konnte aber nicht umhin, die Schönheit der stolzen Tiere zu bewundern. »Und ihr reitet darauf?«, fragte sie staunend.
»Sie tragen uns, wenn wir sie darum bitten«, gab Oona zur Antwort und streichelte einem besonders großen Vogel liebevoll das Brustgefieder. »Sie sind frei und gehören niemandem. Aber sie sind unsere Freunde.«
Faizah war verwirrt. Wie konnte man mit einem Tier befreundet sein? Obwohl Oona ihr auf jede Frage eine erklärende Antwort gab, war vieles für sie nur schwer zu verstehen. Sie hob den Kopf und blickte in das grüne Tal hinaus, in das die untergehende Sonne nun langsam die Schatten der Berge schob. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie atmete tief durch. Es erschien ihr fast wie ein Wunder, hier zu sein, in diesem herrlichen Landstrich bei dem freundlichen kleinen Volk. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie keine Furcht.
Sie war wie die Mahoui. Sie war frei!
Am späten Nachmittag des Tages, dessen Licht Toralf und die getöteten Krieger nicht mehr erblickten, erreichte die Gruppe um Bayard endlich die Gegend, in der sie die Höhle der Seelensteine vermuteten.
Alle waren erschöpft.
Seit sie das Nachtlager am frühen Morgen verlassen hatten, waren sie unaufhörlich auf den Beinen. Die Furcht vor Verfolgern und das ständige Gefühl der Bedrohung durch den Ajabani trieben sie voran. So hatten sie die Mahlzeiten ohne zu rasten eingenommen, und obwohl Horus unermüdlich die Gegend auf der Suche nach Anzeichen von Gefahr überflog, wanderten ihre Blicke immer wieder sorgenvoll über das hügelige Land oder suchten den Himmel nach den Flügelschlägen eines Lagaren ab.
Ajana war froh, dass sie an diesem Tag keinerlei Anzeichen möglicher Verfolger entdeckten. Doch Bayard riet ihr, sich nicht in Sicherheit zu wiegen, zumal der Ajabani einen erneuten Angriff vermutlich erst im Schutz der Dunkelheit wagen würde. Er wusste nun, dass sie einen Falken bei sich hatten, und würde es nicht wagen, sich ihnen bei Tageslicht zu nähern. »Ajabani sind durchtrieben und hinterhältig«, erklärte der Heermeister mit düsterer Miene. »Sie sind wahre Meister ihres blutigen Handwerks und verstehen es wie kein anderer, sich verborgen zu halten. Dass Horus ihn noch nicht aufgespürt hat, hat nichts zu bedeuten. Ich bin sicher, er ist hier irgendwo ganz in der Nähe. Ajabani sind …«
»… ganz gewiss genauso sterblich wie wir«, beendete Keelin den Satz. »Macht das Ganze nicht
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