Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
nichts von dem, was ich in meiner Welt gelernt habe. Ich fühle mich wie … wie ein Kind, das alles erst mühsam neu erlernen muss. Wie ein Blatt, das vom Wind hierher geweht wurde und immer weiter getrieben wird. Es kommt mir fast so vor, als wäre alles nur ein Spiel. Selbst wenn ich es wollte – ich kann es nicht aufhalten. Ich muss das tun, was mir gesagt wird, denn nur so kann ich darauf hoffen, jemals wieder nach Hause zurückzukehren.« Sie hob den Blick, und Keelin sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. »Allein«, griff sie noch einmal Keelins Einwurf auf, »wäre ich schon in der Hütte gestorben. Allein hätte ich die Festung niemals erreicht. Allein hätte ich mich vermutlich in den Bergen verlaufen. Ich wäre am Ende gewesen, bevor ich überhaupt damit begonnen hätte, mein angeblich vorbestimmtes Schicksal zu erfüllen. Ohne Menschen, die mir den Weg weisen, mich führen und mich beschützen, bin ich völlig hilflos. Verstehst du? Nicht ich allein – wir alle müssen diese Aufgabe erfüllen, die Gaelithil ihren Nachkommen auferlegt hat. Doch das geht nur, wenn wir Freunde bleiben.« Sie wischte sich hastig eine Träne von der Wange. »Du hast mir das Leben gerettet, Keelin«, sagte sie mit bebender Stimme. »Das werde ich dir nicht vergessen. Du hast mich geführt, als ich nicht mehr weiter konnte. Und du warst immer freundlich zu mir. Ich … ich habe Angst. Angst zu sterben, Angst zu versagen und Angst, nie wieder nach Hause zu kommen. Diese fremde Welt, die Dunkelheit und sogar das Amulett machen mir Angst. Es wäre viel leichter zu ertragen, wenn … wenn ich Freunde wie dich hätte.« Sie brach ab und schaute ihm geradewegs in die Augen. Es war ein Blick, so verzweifelt, verloren und unendlich traurig, wie Keelin ihn noch nie gesehen hatte. So viel war darin zu lesen, das sie nicht ausgesprochen hatte, so viel, das sein Herz berührte, dass er nicht anders konnte, als sie in die Arme zu schließen.
»Verzeih«, sagte er leise, »Ich wollte dich nicht verletzen.« Und als hätten ihre Worte seine. Gedanken geklärt, erkannte er plötzlich, was ihn den ganzen Tag bedrückt hatte – es war die Furcht, sie zu verlieren.
Vhara starrte auf den schimmernden Stein. Sie wirkte nachdenklich und gelassen, doch eine winzige steile Falte zwischen ihren ebenmäßig geschwungenen Augenbrauen zeugte davon, wie beunruhigt sie war.
Das Licht des Mondsteins zeigte keine Veränderung. Immer noch wies der sanfte Schein nach Südosten, und nichts deutete auf einen Erfolg des Ajabani hin. Er hätte längst auf dem Rückweg sein müssen. Seit ihn der Lagarenreiter in der Nähe der Amulettträgerin abgesetzt hatte, war die Sonne einmal auf- und wieder untergegangen, und noch immer gab es keine Anzeichen dafür, dass sich das wertvolle Kleinod in seinem Besitz befand.
Vhara schaute aus dem Fenster, beobachtete, wie die Dunkelheit mit ihren langen Schatten nahte, und dachte gereizt, dass wohl eine weitere schlaflose Nacht vor ihr lag. Wie gestern würde sie auch heute wieder den Himmel im Osten beobachten, in der Hoffnung, endlich die leuchtende Rauchsäule als sichtbares Zeichen des Erfolgs zu sehen.
Und wenn er versagt hat?
Die bohrenden Zweifel, die sie schon den ganzen Tag quälten, ließen ihr keine Ruhe.
Und wenn er tot ist?
Die Ungewissheit war unerträglich. Doch noch wollte Vhara nicht daran glauben, dass der Ajabani gescheitert sein könnte. Er war der Beste! Ein Versagen war so gut wie ausgeschlossen.
Und dennoch …
Zu viel stand auf dem Spiel. Wenn das erlösende Zeichen auch in dieser Nacht nicht am Himmel erschiene und es bis zum Morgen kein Lebenszeichen von dem Ajabani gäbe, würde sie handeln. Die Tempelgarde stand bereit und wartete nur auf ihren Befehl, um nach Osten zu reiten und die Eindringlinge zu vernichten.
Der Elbenspross durfte den Arnad auf keinen Fall erreichen.
Über der Festung am Pandarasgebirge sank die Nacht schwarz und lautlos hernieder. Die hohen Berge verdeckten die Monde, und nur die Wachfeuer der Posten auf den Wehrgängen spendeten ein spärliches Licht. Es war kalt. Im Schutz der Dunkelheit kroch der nächtliche Frost über Gestein und Gebälk, über Schilde und Waffen und gefror die Feuchtigkeit mit seinem eisigen Atem zu bizarren Mustern.
Von der Brustwehr der Festung blickte Gathorion wie schon so oft in den vergangenen Tagen auf das Heerlager der Uzoma herab, dessen unzählige Lagerfeuer ihm in dieser Nacht wie ein Schwarm leuchtender
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