Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
auf«
»Oh.« Der Gedanke, dass sich so unvorstellbar viel Gestein über ihr auftürmte, machte Faizah Angst, und ein Gefühl der Bedrängnis breitete sich in ihr aus. Sie war ein Kind der Steppe und unter freiem Himmel groß geworden. Die Arbeit der Kurvasa war hart; oft hatten sie im Freien geschlafen, weil sie zu weit von den Lehmhütten entfernt waren, um für die kurze Nachtruhe dorthin zurückzukehren. »Warum fühlt sich der Fels so warm an?«, fragte sie verwundert und fuhr mit den Fingern vorsichtig über die Wand.
»Das kommt vom Wehlfang-Graben«, sagte Oona. »Die Hitze dringt durch das Gestein.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Es ist hier niemals kalt, nicht einmal im Winter.«
Der Wehlfang-Graben!, dachte Faizah bestürzt. Das Bild eines fallenden Körpers, der in den feurigen Fluten des Grabens verdampfte, tauchte wieder in ihrer Erinnerung auf, und sie schloss hastig die Augen.
»Was ist los?« Oona blickte sie besorgt an. »Verzeih, wenn ich etwas gesagt habe, das dir Kummer bereitet.«
»Nein …« Faizah zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, das hast du nicht. Ich hätte nur niemals geglaubt, dass der Wehlfang auch Gutes bewirken könnte.«
»O doch, das kann er. Wir verdanken ihm vieles. Komm mit, dann wirst du es mit eigenen Augen sehen.«
Nur wenige begegneten den beiden jungen Frauen auf ihrem Weg durch das scheinbar endlose und nur spärlich von Fackeln erhellte Labyrinth der Tunnel. Die Meisten grüßten schweigend, indem sie höflich den Kopf neigten, doch Faizah bemerkte sehr wohl die neugierigen Blicke, die ihr folgten.
»Warum starren sie mich so an?«, wollte sie wissen.
»Wir haben selten Gäste«, erwiderte Oona ausweichend und deutete voraus. »Sieh nur, wir sind da!«
Faizah blickte auf und sah ein helles Licht, das nicht weit entfernt in den Tunnel flutete. Die Sonne! Der Anblick verdrängte all ihre trüben Gedanken, und sie konnte das Verlangen, einfach loszulaufen, nur mühsam unterdrücken. »Es ist nicht gut, so schnell hinauszueilen, wenn die Sonne scheint«, hörte sie Oona sagen, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Nach der Dunkelheit in den Tunneln ist es besser, sich langsam an die Helligkeit zu gewöhnen.«
Wenige Augenblicke später traten sie in den kleinen Lichtkegel, der durch die Öffnung in den Tunnel fiel, und Faizah bekam zu spüren, was Oona gemeint hatte. Sie hatte sich inzwischen so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie die Augen schließen und die Hände davor halten musste, weil das Sonnenlicht sie schmerzhaft blendete. Als sie schließlich blinzelnd ins Freie trat, blickte sie wie gebannt auf das phantastische Bild, das sich ihr bot.
Der Anblick der Landschaft, die sich vor ihren Augen erstreckte, war so überwältigend, dass ihr die Worte fehlten. Unter einem strahlend blauen Himmel, dem sich die schneebedeckten Gipfel der Berge entgegenreckten, breitete sich ein langes, grünes Tal aus. Sorgfältig angelegte Felder, auf denen die Bewohner ihrem Tagewerk nachgingen, wechselten sich ab mit grünen Wiesen, auf denen weiße und braune Tiere weideten. Die bewirtschaftete Fläche erstreckte sich weit in das Tal hinein und endete irgendwo in der Ferne in einem wogenden grünen Meer aus Licht und Schatten.
Ein grünes Meer … Fasziniert betrachtete Faizah die satten Farbtöne der Landschaft. Grün war eine Farbe, die sie in ihrem bisherigen Leben nur selten gesehen hatte. Das Gefangenenlager, in dem sie aufgewachsen war, lag in einer kargen Steppe an der Grenze zur endlosen Wüste. Nur im Winter, wenn der Wind regenschwere Wolken weit ins Land hinein trug, gab es dort für kurze Zeit grüne Gräser, die ebenso schnell aus dem Boden hervorschossen, wie sie wenig später wieder verdorrten. Doch obwohl Faizah noch nie in ihrem Leben einen Baum gesehen hatte und das Wort lediglich aus den Legenden ihres Volkes kannte, wusste sie sofort, dass dieses grüne Meer nur eines sein konnte: Wald .
»Ein Wald!«, stieß sie ehrfürchtig hervor. Dann wandte sie sich an Oona und sagte mit glänzenden Augen: »Wie wunderschön.«
»Warte nur erst, bis du die Mahoui gesehen hast«, erwiderte Oona und deutete zum Ende des Tals. Dort gab es keine Felder, nur Wiesen. Auf den Grasflächen erhoben sich vereinzelte graue Felsen und kleine Geröllhaufen, doch diese waren es nicht, die Faizahs Blick fesselten. Die junge Uzoma hatte nur Augen für die wundersamen Tiere, die vereinzelt oder in kleinen Gruppen auf der Wiese standen – die Mahoui. Sie hatte
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