Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Käfer erschienen, der sich am anderen Ende der Klamm niedergelassen hatte. Seine Stirn war von tiefer Sorge gezeichnet.
Worauf warteten sie?
Er seufzte und schaute der weißen Dunstwolke seines Atems nach, die in der windstillen Luft zum Himmel emporstieg. Nicht nur ihm, auch den Heermeistern der Festung gab das Zögern der Uzoma Rätsel auf. Nachdem es am Nachmittag einem Falken gelungen war, das Heerlager des Feindes unversehrt zu erkunden, war klar, dass der erwartete Angriff unmittelbar bevorstand. Niemals zuvor hatte sich ein solches Aufgebot von Kriegern in der Klamm versammelt. Die Positionen der einzelnen Einheiten waren bereits auf einen Angriff ausgerichtet – und dennoch zögerten sie.
Warum?
Die Angriffe der vergangenen Winter waren von den Uzoma, wenn auch mit weit weniger Kriegern, auf dieselbe Weise vorbereitet und dann zügig durchgeführt worden. Doch diesmal war es anders. Und genau das war es, was Gathorion Sorge bereitete.
Nicht, dass er den Angriff herbeisehnte. Im Gegenteil. Das Zögern der Uzoma verschaffte ihm die wertvolle Zeit, mehr Pfeilkatapulte zu bauen. Erst drei der riesigen Kriegsmaschinen waren einsatzbereit. Drei weitere sollten am kommenden Tag fertiggestellt werden. Mit jedem neuen Katapult wuchs auch die Zuversicht der Krieger, dem erwarteten Angriff der Lagaren erfolgreich die Stirn bieten zu können.
Das Zögern der Uzoma nährte aber auch eine andere Hoffnung in ihm, von der keiner außer Inahwen etwas ahnte. Die Hoffnung, dass es der Nebelsängerin vielleicht noch gelang, die Magie am Arnad neu zu weben.
Seit Horus ihm vor zwei Tagen die Nachricht von den sechs Lagaren überbracht hatte, gab es von der Gruppe um Bayard kein Lebenszeichen mehr. Inzwischen mussten der Heermeister und die anderen die Berge überwunden und das Gebiet erreicht haben, in dem der Besitzer der zweiten Mondsteinhälfte sie leicht ausfindig machen konnte. Gathorion seufzte erneut und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Heerlager zu. Das Schicksal der Nebelsängerin lag nicht mehr in seiner Hand. Er konnte nur warten und hoffen, dass ihr Erfolg beschieden sein möge.
Der Abend war kühl, die Luft frostklar und der Himmel dort, wo die Sonne als roter Feuerball hinter den Berggipfeln versank, von feinen Wolkenlinien gezeichnet. Die sechs, die am Morgen ihre Gefährten am Fuß des Pandaras begraben hatten, waren müde und erschöpft, und obwohl Horus schon einige Höhlen in den nahen Felsmassiven entdeckt hatte, schien Bayard bisher noch keine für ein sicheres Nachtlager geeignet. So zogen sie schweigend weiter, während das schwindende Tageslicht die Furcht vor einem möglichen Angriff des Ajabani in ihnen schürte.
Abbas war weit zurückgefallen und folgte den anderen in einiger Entfernung. Der junge Wunand litt besonders unter dem anstrengenden Marsch. Nach nunmehr zwei schlaflosen Nächten konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Doch er klagte nicht. Entschlossen, sich und den anderen zu beweisen, dass auch er zum Krieger berufen war, kämpfte er sich tapfer Schritt für Schritt voran.
Bayard hatte am Morgen keinen Hehl daraus gemacht, dass er ihn am liebsten auf der Stelle zurückgeschickt hätte. Nur weil Keelin sich für ihn verwendet hatte, war der Heermeister schließlich bereit gewesen nachzugeben. Dabei war ihm jedoch deutlich anzusehen gewesen, dass diese Entscheidung nicht von Herzen kam und er Abbas als eine zusätzliche Belastung ansah.
Auch Maylea strafte Abbas mit Nichtbeachtung und mied ihn geflissentlich. Dass ein männlicher Wunand sich allen Verboten zum Trotz erdreistete, eine Waffe zu tragen, war für sie ein sträflicher Bruch mit den gelebten Traditionen ihres Stammes.
Abbas seufzte betrübt. Er hatte nicht wirklich daran geglaubt, dass man ihn freudig aufnähme; dass man aber so abweisend sein würde, damit hatte er nicht gerechnet. Eine Weile hatte er sich mit Ajana unterhalten. Die junge Frau aus der fernen Welt faszinierte ihn, und dass sie tatsächlich die Nebelsängerin war, erfüllte ihn mit Stolz. Er war der Gruppe gefolgt, weil er auf eine Gelegenheit gehofft hatte, Ruhm und Ehre zu erringen. Nun konnte er kaum fassen, wohin diese Reise führte. Sie hatte sein Herz im Sturm erobert. Nicht nur, dass sie sehr freundlich zu ihm war und geduldig alle Fragen beantwortete; es schien ihr auch nichts auszumachen, dass er kein richtiger Krieger und zudem ein Wunand war. Als Maylea ihn einmal angeherrscht hatte, er solle Ajana nicht
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