Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
schwelenden Zorn zu unterdrücken. »Wenn du dich mehr mit der Stammesgeschichte deiner Untertanen und weniger mit Lustknaben und Metzen beschäftigen würdest, wüsstest du darum.« Sie erhob sich von Othons mit schwarzen Djakunfellen belegtem und kunstvoll geschnitztem Thron und trat mit zorniger Miene auf den Regenten zu. »Sie erwarten, dass du sie in der Schlacht anführst, wie es die Tradition verlangt. Du wirst ihnen den Befehl zum Angriff geben und an der Spitze des Heeres dem Feind furchtlos entgegenstürmen, so wie es die Stammesfürsten in alter Zeit getan haben. Als leuchtendes Beispiel für Ehre und Tapferkeit.«
Othon duckte sich, als hätte sie ihn geschlagen. »Aber das ist gefährlich«, jammerte er mit leiser Stimme.
»Natürlich ist es das!«, brauste Vhara auf. »Wir haben Krieg – falls du überhaupt noch an etwas anderes als dein persönliches Vergnügen denken kannst. Krieg! Und Krieg ist gefährlich.« Unvermittelt wurde ihre Stimme ganz leise. »Aber das brauche ich dir nun wirklich nicht zu sagen. Schließlich warst du einmal ein angesehener Heermeister.«
»Das ist zwanzig Winter her«, klagte Othon. »Jetzt bin ich alt und …«
»Ein mächtiger Herrscher, dem die Uzoma bedingungslos folgen.« Vhara trat ganz nahe an Othon heran und krallte ihm die langen Fingernägel in den Nacken. »Du musst an den Pass, Othon«, raunte sie ihm zu. »Wenn du Schwäche zeigst, werden sie dich verachten – und vernichten.«
»Das würden sie nicht wagen!«
»So wie sie es nie wagen würden, dir ihre elenden Metzen als Jungfrauen anzubieten?«
»Ich bin der Whyono«, stieß Othon hervor. »Vor mehr als fünfzehn Wintern schworen mir die Stammesfürsten ihre Treue. Seitdem geht es ihnen doch gut. Warum sollten sie mich vernichten, nur weil ich unglücklicher Weise verhindert bin, wenn der Angriff erfolgt?«
Weil du ein erbärmlicher Feigling bist, dachte Vhara, hütete sich jedoch, es auszusprechen. »Sie könnten den Eindruck gewinnen, du ließest sie im Stich«, sagte sie stattdessen und fügte warnend hinzu: »Das wäre nicht gut, Othon.«
»Nun, du meinst, ich soll wirklich …«
Vhara machte ein paar Schritte auf den Thron zu, hob theatralisch die Hände und wandte sich dann so ruckartig um, dass sich ihre Gewänder bauschten. »Ja!«, rief sie mit feurigem Blick und ballte die Fäuste. »Du sollst es nicht nur, du musst. Wecke noch einmal den Krieger in dir. Beweise den Uzoma, dass du ein wahrer Anführer und ihrer Verehrung würdig bist. Ein mutiger und unerschrockener Whyono, der sich nicht scheut, seinen Untertanen mit glorreichem Beispiel in der Schlacht voranzugehen. Nur als starker Anführer kannst du dir ihrer Treue auch weitere fünfzehn Winter gewiss sein. Wenn du versagst …«, sie ließ den Finger in einer eindeutigen Geste an seiner Kehle entlanggleiten, »… ist es aus.«
Othon erbleichte. Auf seiner Stirn glänzten winzige Schweißtropfen, und seine fleischigen Finger drehten unablässig an den klobigen Ringen, die sie schmückten. »Also gut, dann breche ich in … in zwei Tagen auf«, gab er zögerlich nach. »Das … das kommt alles so plötzlich. Und es … gibt noch so viel zu tun, bevor …«
»Morgen!« Vharas Tonfall duldete keinen Widerspruch. Mit strengem Blick trat sie auf Othon zu, der sich wie ein geprügelter Hund duckte und zurückwich. »Sobald die Sonne aufgeht, wirst du mit deinem Gefolge zum Pass aufbrechen«, bestimmte sie. »Es ist alles bereit.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über die Lippen der Hohepriesterin. Sie spürte, dass Othons kläglicher Widerstand gebrochen war. Er würde sich ihrem Willen beugen. »Doch zuvor wirst du die Bewohner Udnobes zusammenrufen, um deinen heldenhaften Einsatz für das Volk der Uzoma und die bevorstehende Vernichtung der Vereinigten Stämme Nymaths zu verkünden.«
Oona führte Faizah durch einen gewundenen, weit verzweigten Tunnel mit niedriger Decke, der unzählige große und kleine Räume miteinander verband. Auch hier waren die Eingänge zu den Gewölben mit Fellen verhängt. Hin und wieder drangen Licht und Stimmen aus dem Innern der Räume.
»Wo sind wir?« Faizah streckte die Hand aus und berührte das dunkle Gestein. Die Enge und das spärliche Licht wirkten zunehmend bedrückend auf sie, und sie hoffte, bald ans Tageslicht zu gelangen.
»Wir sind in einem Berg«, erklärte Oona und deutete nach oben. »Über uns ragen die Gipfel des Pandarasgebirges bis zu den Wolken
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