Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
des Glücks in den Augen.
» Raido hat dich nach Nymath geführt und wird dich sicher zurückgeleiten, doch bevor die Kräfte der Rune erneut wirksam werden, muss sich der Kreis schließen. Und er schließt sich nur dann, wenn auch die anderen Runen ihre Magie entfaltet haben.« Plötzlich wurde die Elbin sehr ernst. »Auch darum müssen die Nebel neu gewoben werden. San mi dúath i anglenna. Cuino i estel mîn – Es liegt im Dunkeln, was sich nähert. Sei unserer Hoffnung lebendig«, sagte sie, hob den Arm und bedeutete Ajana mit den Worten »Tol enni iell« , näher an den Kristall heranzutreten. »Du sollst die Worte hören, die die Macht der Nebel erneut zu beschwören vermögen«, sagte sie feierlich und erklärte: »Eine Strophe für jede Rune. Berühre sie einzeln, um die Mächte anzurufen. Beginne mit Dagaz und folge dem Amulett bis Laguz . Aber hüte dich davor, das Lied zu früh zu singen. Es kann nur ein einziges Mal erklingen. Die Worte, die ich dir nun sage, haben keinen Bestand in deiner Erinnerung. Einmal ausgesprochen, sind sie für immer verloren.«
Ajana trat so dicht vor den Kristall, dass sie Gaelithil von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Die Elbin hob die Hand, legte Ajana zwei Finger auf die Stirn und murmelte: » I ven ereb dhartha – Der einsame Weg wartet.«
Und wie von selbst antwortete Ajana aus der Tiefe ihres Geistes: » Thuion daig a chen laston – Ich atme tief und lausche Euch.«
Ein Ruf drängte sich in ihre Träume und vertrieb die wirren Bilder von finsteren Höhlen und glänzenden Kristallen, von Nebelgestalten und schimmernden Geflechten, die sie durch den Schlaf begleitet hatten. Dann spürte sie eine Hand auf der Schulter, die sie grob wachrüttelte, und hörte erneut eine Stimme, die ihr diesmal jedoch zurief, sie müsse sofort aufwachen.
… Keelin?
Nur langsam fand Ajana in die Wirklichkeit zurück. »Was ist geschehen?«, fragte sie verwirrt.
»Ich weiß es nicht.« Keelin hielt eine brennende Fackel in den Händen und blickte zum Ausgang der Höhle, wo Maylea, Feanor und Bayard beisammen standen und in die Dunkelheit hinausstarrten. Abbas hockte auf seinem Lager und blickte verunsichert zu den dreien hinüber.
»Keelin, Ajana! Kommt her.« Bayard winkte die beiden zu sich. In der Stimme des Heermeisters schwangen Fassungslosigkeit und Unglaube, aber auch eine große Erleichterung mit.
»Seht nur!« Bayard hielt seine Fackel so, dass die Flammen den schmalen Eingang zur Höhle erhellten. Ajana sog erschrocken die Luft ein.
In dem Felsspalt stand ein Mann in schwarzen Gewändern, den sie auch in dem seltsamen Traum gesehen hatte. Er drängte sich mit dem Rücken so fest an die Wand, als wiche er vor einer Bedrohung zurück, und krallte die Finger in den Fels. Sein Gesicht war zu einer Maske des Grauens erstarrt, der Mund halb geöffnet und die Augen weit aufgerissen, als könnte er nicht glauben, was er sah – oder besser: gesehen hatte. Er war tot.
»Der Ajabani!«, flüsterte Maylea erschüttert. Sie trat in den Gang hinein, bückte sich und hob einen gebogenen Dolch und einen Wurfstern auf. Die Waffen, die am Fuß der Felswand auf dem Boden lagen, waren dem Ajabani entglitten, bevor er sie hatte einsetzen können.
»Thorns heilige Rösser.« Bayard hatte wieder zu beherzter Sprache gefunden. »Das war verdammt knapp. Wer immer diesen gemeinen Meuchler für uns erledigt hat, verdient aufrichtigen Dank.«
»Aber wie ist das möglich?«, fragte Maylea. »Es gibt kein Blut, keine Verletzungen und nicht die geringste Spur eines Kampfes.«
»Sieht ganz so aus, als hätte ihm jemand die Seele geraubt.« Keelin warf Ajana einen bedeutungsvollen Blick zu. Die Bemerkung war ein Ausdruck der Erleichterung und nicht wirklich ernst gemeint, doch Ajana wusste, dass sich sehr viel Wahrheit dahinter verbarg.
»Blut oder nicht, tot ist tot«, hörte sie Bayard sagen. »Der wird uns jedenfalls nicht mehr bedrohen. Lasst uns aufbrechen, uns steht eine große Aufgabe bevor. Wir müssen die Höhle finden.«
»Das müssen wir nicht mehr«, erwiderte Ajana zaghaft.
»Wie meinst du das?« Alle Augen richteten sich auf sie.
»Ich war schon dort.« Ajana wusste, dass dies in den Ohren der anderen völlig unglaubwürdig klang, doch jetzt konnte sie nicht mehr zurück. »Kommt mit«, bat sie und deutete auf das fast heruntergebrannte Feuer. »Ich habe euch viel zu erzählen.«
Am Ende einer langen, stillen und finsteren Nacht saß Vhara am
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