Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
verflüchtigte sich, als hätte es ihn nie gegeben.
Der Tunnel wölbte sich nun weit nach oben; die Quergänge, die hier zumeist von Geröll und Erdreich verschüttet waren, wurden von gemeißelten Bögen eingefasst, die trotz des Zerfalls noch immer von einzigartiger Baukunst zeugten.
Ajana bewunderte die kunstvollen Ornamente der Säulen, die sich wie die Ranken einer Blume umeinander wanden. Sie fand Abbildungen von Blüten und Symbolen, deren Bedeutung sie nicht kannte, und Schriftzeichen, die den Runen auf ihrem Amulett sehr ähnlich waren.
»Komm!« Die Stimme des Wächters hallte durch ihre Gedanken. »Sie erwartet dich.«
Ajana ließ die steinernen Zeugnisse vergangener Zeiten hinter sich und folgte dem Wächter. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie bald am Ziel wären, und sie fühlte eine freudige Erregung in sich aufsteigen. Tatsächlich hielt der Wächter kurz darauf inmitten des Tunnels inne und richtete sich so weit auf, dass der aalähnliche Kopf auf Augenhöhe mit ihr war.
»Warte hier«, hörte sie ihn in ihren Gedanken wispern, ehe er kehrtmachte und ohne weitere Erklärung davonglitt.
Ajana sah ihm nach und wartete. Vor ihr erstreckte sich der Tunnel in ermüdender Eintönigkeit; allein die schimmernden Gewächse boten dem Auge ein wenig Abwechslung.
Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie schon auf das schimmernde Moos und den Fels starrte, als beides sich unversehens veränderte und sich unter ihren Blicken in einen Vorhang aus fließendem Wasser verwandelte.
Ajana beobachtete die Veränderung voller Staunen. Der Boden zu ihren Füßen war zu einem schmalen Steg geworden, der in das herabströmende Wasser hineinführte und darin verschwand.
Kurz zögerte sie, doch dann fasste sie sich ein Herz und bewegte sich ein Stück auf den Steg hinaus. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, um das Wasser zu berühren, aber es floss einfach durch sie hindurch. Dennoch blieb die Bewegung nicht ohne Folgen. Kaum, dass sie die Hand zurückzog, wurde der Vorhang aus Wasser dünner und gab den Blick frei auf die gewaltigste Höhle, die Ajana jemals gesehen hatte.
Das kathedralengleiche Gewölbe reichte so weit hinauf, dass sich die Decke irgendwo in der Dunkelheit verlor. Unzählige Stalaktiten ragten wie riesige Eiszapfen aus der Finsternis, während ihnen aus dem Bodennebel heraus Hunderte gewaltiger Stalagmiten entgegenwuchsen. Viele hatten sich längst zu gewaltigen Säulen vereinigt und zierten die Höhle wie die bizarren Stämme eines steinernen Waldes.
Obgleich die kleinen moosartigen Gewächse die Säulen wie ein leuchtendes Ornament umrankten, reichte ihr Schein nicht aus, um die gewaltige Höhle zu erhellen.
Ajana schwebte durch den Nebel und schaute sich ehrfürchtig um. Die Höhle erschien ihr wie eine einzigartige Komposition aus grünem Licht und blauen Schatten, berauschend schön und Furcht einflößend zugleich. Und wie schon in den Tunneln glaubte sie auch hier im Zwielicht die seltsamen Nebelwesen zu erkennen, die sich zwischen den Säulen bewegten. Es waren Gestalten in langen Gewändern, die scheinbar ziellos umherschwebten, aber auch andere Wesen, deren Umrisse verschwommen waren und die nur entfernt an Menschen erinnerten. Leise Stimmen wisperten, raunten und klagten in einer Sprache, die so fremd und alt war, dass Ajana sie nicht verstand. Hoffnungslose Stimmen, die redeten, ohne eine Antwort zu erhalten. Sie huschten heran, schwebten wieder davon und verloren sich irgendwo in den Nebeln. Je weiter Ajana in die Höhle vordrang, desto mehr wurden es. Als hätte ihre Anwesenheit unzählige empörte Geister aus ihrem Schlummer geweckt, vereinigten sich die Stimmen zu einem flüsternden Chor, dessen Geraune langsam an- und abschwoll.
Aber da war noch etwas, das Ajana nicht in Worte fassen konnte. Mit jedem Schritt, den sie weiter in die Höhe hineinglitt, spürte sie die Gegenwart einer fremden Macht. Eine sonderbare Unruhe ergriff von ihr Besitz, die nichts mit Furcht gemein hatte. Es war das gleiche Gefühl, das sie durchströmt hatte, als sie das Amulett zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte. Es war ihr vertraut und fremd zugleich. Sie fühlte sich hingezogen, und doch ängstigte es sie. Sie spürte, wie etwas in ihr erneut zum Leben erwachte und mit Macht nach außen drängte. Und obgleich sich ein Teil von ihr noch immer dagegen wehrte, es anzunehmen, wusste sie, was es war. Das Erbe in ihr war erwacht. Ein Erbe, von dem sie lange nichts geahnt hatte und das sie
Weitere Kostenlose Bücher