Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
zeremoniellen Anlässen getragen hatte. »So sieht ein wahrer Anführer aus. Aber ein Anführer muss mehr bieten als ein prächtiges Äußeres. Er muss seinen Mut beweisen. Und wie könntest du das besser als auf dem Rücken eines Lagaren.« Sie hob die Hand und vollführte eine Bewegung in der Luft, als striche sie einen Vorhang zur Seite. »Welch ein beeindruckender Anblick«, sagte sie, den Blick schwärmerisch in die Ferne gerichtet, als sähe sie Othon dort tatsächlich auf einem Lagaren reiten. »Der unerschrockene Herrscher der Uzoma landet auf einem der gefürchteten Lagaren inmitten des angriffsbereiten Heeres. Die Rüstung glänzt im Sonnenlicht, und er beweist allen, die jemals spöttische Reden über ihn geführt haben, dass die Gerüchte über ihn nichts weiter als schändliche Lügen sind …«
»Gerüchte? Was für Gerüchte?«, rief Othon überrascht aus. »Wer wagt es, Gerüchte über mich zu verbreiten? Warum weiß ich nichts davon?« Sein Atem ging schnell, das ohnehin gerötete Gesicht schwoll zornig an, und er fasste Vhara bei den Schultern. »Sag mir sofort, was das für Gerüchte sind.«
»Verzeih mir.« Obwohl sie mit ihren Worten genau diese Wirkung beabsichtigt hatte, lächelte Vhara beschämt. »Ich wollte dich nicht erzürnen. Doch gerade in den letzten Tagen wurde mir das eine oder andere zugetragen.«
»Was? Was reden sie über mich?« Othons Griff wurde fester, und Vhara schob seine Hände entrüstet fort.
»Nun …«, hob sie zögerlich an, um Othons Ungeduld noch ein wenig zu steigern. »Es scheint allmählich aufzufallen, dass du seit mehr als drei Wintern nicht am Pass warst.« Sie ließ Othon nicht aus den Augen. Der Whyono nahm alles genau so auf, wie sie es sich erhofft hatte, und sie sprach die nächsten Worte in aller Deutlichkeit. »Es heißt dort, du wärst ein Feigling, der Völlerei verfallen und verweichlicht. Sie nennen dich einen feisten Schwächling und behaupten, dass du …«
»Das ist Verleumdung!« Othon ballte die Fäuste. »Es ist nicht wahr, und du weißt es.« Er blickte Vhara erwartungsvoll an, doch die Hohepriesterin ließ durch nichts erkennen, was sie wirklich darüber dachte. »Ich – ein Feigling?«, fuhr Othon fort. »Ich bin der Whyono. Oberster Herrscher der Uzoma. Ich bin …«
»Dann beweise es ihnen«, fuhr Vhara ihn an. In ihren Augen brannte ein leidenschaftliches Feuer, und ihre Stimme war voller Eifer. »Beweise diesen elenden Spöttern, dass du nicht der Schwächling bist, den sie aus dir machen wollen. Zeig ihnen, dass du mutiger bist als alle Stammesfürsten. Reite auf dem Lagaren an den Pass.« Vhara sah, wie Othon erbleichte, doch sie spürte, dass sie gewonnen hatte. »Reite den Lagaren und führe die Truppen noch heute Abend in den Kampf Zeige diesen Wilden, was Entschlossenheit ist.« Sie trat näher und berührte Othons Arm. »Die Stammesfürsten rechnen erst morgen mit dir und denken, dass du mit der Karawane ankommen wirst. Sie rechnen nicht mit einem solch beeindruckenden Auftritt – und genau das musst du für dich nutzen.«
»Indem ich früher ankomme?«
»Indem du dort ankommst wie ein wahrer Held. Einem Whyono, zu dem alle aufblicken, werden auch die Stammesfürsten zu Füßen liegen. Die Zweifler und Spötter werden verstummen, wenn sie sehen, wie du die Truppen siegreich in die Schlacht führst. Es wird nur noch einen geben, dem sie des Nachts an den Feuern huldigen – Othon!«
Othon überlegte kurz. Es war ihm deutlich anzusehen, wie er innerlich mit sich rang, doch schließlich siegte der Gedanke an Ruhm und Ehre über die Furcht und Abscheu, die er beim Anblick der Lagaren stets empfand.
»Du hast Recht«, sagte er schließlich und machte eine versöhnliche Geste. »Verzeih mir, dass ich so aufbrausend war. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du dies alles nur tust, um mich vor Häme und Schaden zu bewahren.« Er lächelte, und aller Groll war aus seiner Stimme verschwunden. »Um meiner Ehre willen werde ich den Ritt wagen. Darum und um den Spöttern zu zeigen, das es nichts gibt, wovor der mächtige Whyono sich fürchtet.« Er ergriff Vharas Hand und blickte ihr entschlossen in die Augen. »Wenn die Sonne untergeht, sieh nach Süden«, sagte er so ernst, als leistete er einen Eid. »Dort wird als Zeichen meiner Verehrung ein ganz besonderes Abendrot dein Herz erfreuen.«
Der Tag, der jenseits des Pandarasgebirges im Osten heraufzog, wurde von den langen Schatten der Berge noch grau umhüllt, als
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