Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Fenster ihres Gemachs und schaute nach Osten, wo soeben der neue Tag im Licht der aufgehenden Sonne geboren wurde. Ihre Arme stützten sich auf den schmalen Fenstersims, die Finger wie Klauen um den Stab gekrampft, an dessen Ende der Mondstein noch immer sein mildes Licht verströmte.
Das Rauchzeichen war nicht entfacht worden. Bis zum Schluss hatte sie darum gebangt und den Augenblick des Triumphes herbeigesehnt, doch die Dämmerung erstickte auch den letzten Hoffnungsschimmer. Der Ajabani hatte versagt.
Es gab nichts mehr zu tun, keine Möglichkeiten mehr zu erwägen, keine weiteren Entscheidungen zu treffen. Nach dem langen Warten in der Dunkelheit hatte sie viel Zeit gehabt, sich mit dem möglichen Scheitern des Ajabani abzufinden, die nächsten Schritte zu planen und einzuleiten. Als der Morgen graute, war alles durchdacht, und die nötigen Befehle waren bereits erteilt.
Die Krieger der Tempelgarde machten sich in diesem Augenblick bereit, selbst nach dem Amulett und dem Mädchen zu suchen. Sie ritten die schnellsten Pferde und trugen die besten Waffen. Auf einer Karte hatte Vhara die Stelle markiert, an der sie die Gesuchte vermutete, und dazu die strikte Anweisung gegeben, sie lebend nach Udnobe zu bringen. Die flache Steppe, die sich von der Nordseite des Pandarasgebirges bis zum Arnad erstreckte, bot kaum eine Möglichkeit, sich zu verbergen, und es sollte für die Krieger nicht allzu schwierig sein, sie dort ausfindig zu machen. Wenn alles wie geplant verlief, hätten sie ihren Auftrag am späten Nachmittag ausgeführt.
Die Krieger der Tempelgarde gehörten zu den wenigen Uzoma, die nicht nur in den verschiedenen Waffengattungen, sondern auch im Umgang mit Pferden erfahren waren. Jeden Einzelnen hatte Vhara persönlich ausgewählt und sich davon überzeugt, dass er ihr treu ergeben war. Die Tempelgarde besaß ihr vollstes Vertrauen, doch das hatte der Ajabani auch besessen …
Vhara seufzte. Zu gern hätte sie die Lagaren eingesetzt, um die Amulettträgerin zu finden, doch die Schmach, Othon vom Scheitern des Ajabani – und damit auch von ihrem Versagen – zu berichten, wollte sie sich ersparen. Die Tempelgarde war somit ihre letzte Hoffnung, und sie war fest davon überzeugt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Vharas Hände schlossen sich noch fester um den Stab. Sie wollte nicht an ein erneutes Versagen denken; zu viele Gelegenheiten waren schon vertan worden, zu viel Magie wirkungslos geblieben. Diesmal musste es gelingen! Sie würden …
»Herrin?« An der Tür ertönte ein zaghaftes Klopfen.
»Was gibt es?« Vhara fuhr herum und blickte den Uzomaknaben missbilligend an, der demütig in der Tür verharrte.
»Der Whyono schickt mich, Herrin«, beeilte sich dieser zu sagen. »Er bittet Euch zu sich.«
»Richte ihm aus, dass ich komme.« Vhara erhob sich ohne Eile, ging zur Tür, richtete ihr Gewand und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Nun würde sie Othons Gesellschaft wohl oder übel noch länger ertragen müssen. Zumindest … Ein bösartiges Lächeln huschte über Vharas Gesicht, als sie die Tür öffnete und in den Gang hinaus trat. Zumindest so lange, bis sich ein brauchbarer Nachfolger für ihn fand.
»Vhara!«
Othons Miene und der empörte Tonfall verrieten der Hohepriesterin schon beim Betreten des Regentengemachs, dass der Whyono aufs Höchste verärgert war.
»Ist das wahr?«, fragte er, während er mit hochrotem Kopf auf sie zukam. »Ist es wahr, dass ich, ich, der Whyono, auf einer dieser stinkenden Echsen zum Pass fliegen werde?«
»Es wird großen Einruck auf die Stammesfürsten machen«, sagte Vhara schmeichelnd. Sie hatte schon damit gerechnet, dass Othon sich weigern würde, und ihre Worte genau vorbereitet. Ursprünglich sollte er zum Pass reiten, doch damit würden sie mehr als einen Tag verlieren, ehe der Angriff beginnen konnte. Wäre der Ajabani erfolgreich gewesen, hätte das keine Rolle gespielt, doch nun bewegte sich die Trägerin des Amuletts ungehindert auf den Arnad zu, und rasches Handeln war geboten.
»Die Krieger brennen darauf, in die Schlacht zu ziehen«, sagte sie eindringlich. »Die Stimmung im Heerlager ist auf dem Höhepunkt. Alle warten nur darauf, dass du den Befehl zum Angriff gibst.« Sie maß Othon mit einem gespielt bewundernden Blick. »Sieh dich an«, sagte sie scheinbar voller Stolz und strich ihm mit der Hand über die aufwändig gearbeitete Rüstung aus hartem Leder und Eisenringen, die er bisher nur zu
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