Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
sie Bayards Entscheidung nach einigem Überlegen. »Nachts können Falken nicht gut sehen.«
Abbas erwiderte nichts. Die Maßregelung von Bayard schien ihn tief getroffen zu haben, und er wirkte wie eine Schnecke, die sich furchtsam in ihr Haus zurückgezogen hatte. Ajana schwieg. Auch sie brauchte Zeit, um über all das nachzudenken, was ihr in der vergangenen Nacht widerfahren war.
Ich sehe Gefahren, harte Zeiten und unvorstellbar Böses auf dich zukommen. Aber da sind auch Freunde und eine große Liebe.
… eine große Liebe. Ajana schaute zu Keelin, der neben Bayard ging, und fühlte, wie sich eine angenehme Wärme in ihrem Innern ausbreitete. Ob Gaelithil von ihm gesprochen hatte?
Seit sie ihm in Lemrik das erste Mal in die Augen gesehen hatte, empfand sie für ihn etwas Besonderes, das sie nie zuvor für jemanden empfunden hatte. Ein Gefühl, das mehr war als Dankbarkeit für das gerettete Leben – und das sie hütete wie einen Schatz.
In diesem Augenblick wandte sich Keelin um, und ihre Blicke trafen sich. Ajana errötete. Hastig schaute sie zur Seite und tat, als blickte sie aufmerksam in die Ferne, um mögliche Feinde frühzeitig zu erkennen.
Geführt von Horus, der ihnen vorausflog und sich nur hin und wieder eine kurze Rast auf Keelins Schulter gönnte, zogen die sechs weiter nordwärts durch die eintönige Steppe. Der harte, ausgedörrte Boden erleichterte ihnen das Gehen, nur hin und wieder versanken ihre Schritte im tückischen weichen Sand, der sich in den Mulden und Senken angesammelt hatte. Doch bald schon erkannten sie diese Stellen an ihrem rötlichen Schimmer und bemühten sich, sie zu umgehen. Wie Bayard es vorausgesagt hatte, blieb das Gelände eben, und da es ihnen nicht an Gesprächsstoff mangelte, fiel ihnen das Wandern leicht, und sie kamen gut voran.
Da Abbas ein wenig zurückgefallen war und missmutig hinter den anderen hertrottete, hatte Maylea sich wieder zu Ajana gesellt. Sie erzählte ihr Geschichten aus ihrer Heimat und von ihrer Familie und war neugierig, etwas über Ajanas Welt zu erfahren, über ihre Familie, ihre Freunde und ihre Lebensart. Ajana gab bereitwillig Auskunft, immer darum bemüht, die Dinge so darzustellen, dass sie Maylea nicht verwirrten.
So verging der Morgen. Als die Sonne den höchsten Stand erreichte, machten sie eine kurze Rast, um sich auszuruhen und zu stärken. Dann zogen sie weiter durch das trostlose, unfruchtbare Land. Zwar gab es Gräser und kleine Büsche, doch die Halme und Blätter waren braun und kraftlos und wirkten wie Stiefkinder der Natur. Nirgends gab es Anzeichen von Lebewesen.
Nach den kühlen Tagen und frostigen Nächten in den Bergen war Ajana der Tag nun viel zu warm. Den anderen erging es nicht besser. Bayards Ermahnungen zum Trotz griffen sie viel zu oft zu den Wasserschläuchen und wischten sich immer wieder den Schweiß von der Stirn. Die hoffnungsvolle Stimmung des Morgens wich Bedrückung, und die angeregten Gespräche verebbten langsam, bis sie schließlich ganz verstummten. Abbas stapfte immer noch abseits von den anderen dahin. Mit ausdrucksloser Miene hing er seinen eigenen Gedanken nach und schaute nicht einmal auf, als Horus zum großen Erstaunen der anderen eine Eidechse erbeutete.
Auch Maylea war verstummt. Wie die Männer schien sie nur mehr darauf bedacht, den Weg schnell hinter sich zu bringen, um diese unwirtliche und lebensfeindliche Gegend so bald wie möglich verlassen zu können. Ajana hingegen genoss die Ruhe und hing ihren Gedanken nach, auch wenn sie müde und durstig war und ihre Füße schmerzten.
Die Sonne stand nun schon weit im Westen. Der grelle Glanz machte es immer schwerer, das Land in dieser Richtung nach möglichen Feinden abzusuchen. Bayard blickte immer häufiger aus zusammengekniffenen Augen voraus, als spürte er eine drohende Gefahr.
Plötzlich richtete sich Horus auf Keelins Schulter steif auf und reckte den Kopf aufmerksam nach vorn. Ajana konnte sehen, wie das Gefieder des Falken zitterte, ein Gebaren, das sie noch nie bei ihm beobachtet hatte.
»Bayard!« Der Ausruf des jungen Falkners trug das Wissen um die nahende Gefahr in sich. Im selben Moment stieß sich der Falke von seiner Schulter ab und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte.
»Was ist los?« Der Heermeister hatte die Hand an die Stirn gelegt, um die Augen zu beschatten, und sah dem Vogel nach, der im Licht der tief stehenden Sonne entschwand.
»Reiter!« Keelin verharrte und hob die Hände an die
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