Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Gathorions Ausführungen vernommen habe, doch auf den Schultern des Rates lastet eine große Verantwortung. Die Nachricht, die der Falke übermittelte, war von Trauer und Hoffnungslosigkeit geprägt und weckte in uns den Eindruck, der Pass werde schon bald dem Ansturm der Uzoma erliegen. Ihr, Gathorion, schildert uns nun jedoch eine andere Sichtweise.« Er verstummte und tauschte einen Blick mit den übrigen Ratsmitgliedern, dann fuhr er fort. »Die veränderte Lage bedarf einer gründlichen Prüfung, und ich bitte um Verständnis dafür, dass der Rat zu dieser Stunde noch keine endgültige Entscheidung über das weitere Vorgehen fällen kann.« Er warf einen Blick zum Fenster, vor dem der Sturm ungehemmt wütete, und fügte hinzu: »Es ist schon spät. Wir alle brauchen Zeit, um die Neuigkeiten zu überdenken. Daher schlage ich vor, die Versammlung für heute zu beenden und morgen fortzusetzen.«
Es dämmerte. In den Gärten der kleinen Stadt, in der die Evans wohnten, erhoben sich die ersten Vogelstimmen. Ein Zeitungsjunge weckte die Hunde in den Häusern durch knarrende Gartenpforten und das Klappern der Briefkastendeckel.
Ajana erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Ein kurzer Blick auf die Leuchtziffern des Weckers bestätigte ihr, was das Dämmerlicht, das durch die Ritzen der zugezogenen Vorhänge sickerte, vermuten ließ: Es war noch viel zu früh, um aufzustehen.
»Halb fünf«, murmelte sie gähnend, schlüpfte aus dem Bett, schloss das Fenster, um die störenden Geräusche auszusperren, und kuschelte sich wieder in die leichte Sommerdecke. Bis sie aufstehen musste, waren noch gut zwei Stunden Zeit. Doch der Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Die ganze Nacht lang hatte Ajana versucht, sich zu entspannen, aber ihre Gedanken hatten unaufhörlich um die geheimnisvolle Erbschaft gekreist und sie beharrlich am Einschlafen gehindert. Manchmal war sie darüber in einen unruhigen Schlummer geglitten, doch immer, wenn sie die Augen geschlossen hatte, war ein mystisches Lied in einer fremden Sprache erklungen, das sich im Schatten des Schlafes heimlich in ihre Träume geschlichen und ihr Angst gemacht hatte.
Blinzelnd schloss Ajana die Augen und spürte, wie die sanften Wogen des Schlafs sie erneut davontrugen …
»Aufstehen!« Grelles Sonnenlicht flutete in das Zimmer und blendete Ajana, die sich verschlafen im Bett aufrichtete. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Ihre Mutter schob den zweiten Vorhang zur Seite und öffnete das Fenster.
Ajana schaute zum Radiowecker, der noch immer das Morgenprogramm ihres Lieblingssenders spielte. »O nein! Schon halb acht!« Sie schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Von einer Sekunde zu nächsten waren die Erbschaft und die geheimnisvolle Melodie vergessen. Wenn sie noch rechtzeitig in die Schule kommen wollte, musste sie sich beeilen.
»Frühstück steht auf dem Tisch!«, hörte sie ihre Mutter rufen, bevor sie im Badezimmer verschwand.
Eine knappe halbe Stunde später hastete Ajana in die Garage, um ihr Fahrrad zu holen. Bis zum Beginn der ersten Stunde blieben ihr noch nicht einmal zehn Minuten. Mit ein wenig Glück konnte sie es gerade noch schaffen, sich vor dem Unterrichtsbeginn in den Klassenraum zu mogeln. Ohne auf die üblichen mahnenden Worte ihrer Mutter zu achten, schwang sie sich aufs Rad und fuhr eilig davon.
Die Straße, in der sie wohnte, wirkte an diesem Morgen wie ausgestorben. Die Nachbarn waren längst aus dem Haus, und die Kinder, die ihr sonst des Morgens begegneten, bereits in der Schule. Immer wieder wanderte ihr Blick zur Armbanduhr, und sie verglich in Gedanken die Zeit mit dem verbleibenden Weg. Noch sieben Minuten!
Am Ende der Straße tauchte der Bahnübergang auf, der schon so manches Mal schuld daran gewesen war, dass sie sich verspätet hatte. Kurz vor acht schlossen sich die Schranken für endlose Minuten, um den Regionalexpress passieren zu lassen. Aber diesmal schien das Glück auf ihrer Seite.
Ajana trat kräftig in die Pedale.
Noch fünfzig Meter.
Die Gleise glänzten im Sonnenlicht.
Hastig atmend hob sie den Blick. Die Schranken bewegten sich noch nicht. Auch hier wirkte die Straße wie leergefegt. Nur auf der anderen Seite des Bahnübergangs lehnte ein seltsam gekleideter Mann in einem langen schwarzen Mantel lässig an einer Mauer. Mit dem breitkrempigen Hut, der sein Gesicht bedeckte, und der halb leeren Flasche in der Hand sah er aus, als wäre er einem Western entsprungen. Doch als
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