Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Doch die Priesterin wusste auch, dass sich ihr im Machtgefüge der Uzoma ohne Othons Gunst keine Möglichkeit bot, ihre ehrgeizigen Ziele zu verwirklichen. Sie hatte schnell gelernt, dessen Hörigkeit geschickt für ihre eigenen Pläne zu nutzen.
Auf Geheiß des neuen Gottes hatte sie vor vielen Wintern die Wüste zwischen Andaurien und Nymath durchquert, um sich das Volk der Uzoma Untertan zu machen. Der lange und beschwerliche Weg hatte viele Opfer gefordert. Unter der Gluthitze der sengenden Sonne war der kleine Trupp, der die Hohepriesterin begleitet hatte, rasch geschrumpft; nur eine Hand voll Krieger hatte das andere Ende der Wüste lebend erreicht. Damals war Othon noch ein athletischer Krieger gewesen, ein gut aussehender und nach außen hin disziplinierter Hauptmann, der den Oberbefehl über die Eskorte innehatte und den sie bereits auf der langen Reise durch die Wüste zu ihrem Geliebten gemacht hatte. Geschickt hatte sie ihn verführt und ihm die geheimsten Wünsche so lange von den Augen abgelesen, bis er ihr mit Leib und Seele verfallen war.
Mit Othons gefügiger Hilfe und der Macht des neuen Gottes war es ihr binnen kürzester Zeit gelungen, auch die Uzoma für sich zu gewinnen und sie dazu zu bewegen, dem neuen Gott – und dem Whyono – zu dienen.
Der Whyono!
Vhara schnaubte verächtlich. Aus dem stattlichen Krieger von einst war mit der Zeit ein aufgedunsener, ergrauter Mann geworden, für den die stets jugendlich wirkende Vhara nur mehr Abscheu empfand. Hätte sie die Wahl gehabt, wäre er längst nicht mehr am Leben. Doch die meisten Krieger, die den Weg durch die Wüste überlebt hatten, waren inzwischen zu alt für den Posten. Viele waren gestorben, und die wenigen, deren Haare noch kein Silber zeigten, taugten nicht für das Amt des Whyono.
»Dich können diese verlogenen Barbaren vielleicht täuschen«, fuhr sie tadelnd fort. »Im Rausch der Sinne würdest du es vermutlich nicht einmal bemerken, wenn eine räudige Hündin das Lager mit dir teilte.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf »Ach, lassen wir das«, sagte sie gereizt und schritt ungeduldig im Zimmer umher, während sie beobachtete, wie sich der Regent ankleidete. »Wenn wir die verbleibende Zeit nutzen wollen, müssen wir uns beeilen. Lange hat die Magie die Grenzen der Dimensionen mühelos überwunden und das verhasste Elbenblut aus der fernen Welt getilgt. Ich war überzeugt, dass wir alle ausgelöscht hätten – dass niemand mehr am Leben sei, der die Magie der Nebel erneut zu wecken vermag.« Sie ballte die Fäuste. »Und jetzt das! Warum haben wir das Mädchen nicht früher gefunden? Wie konnte es geschehen, dass sie so lange im Verborgenen blieb?«
»Vielleicht hat sie sich versteckt?«, wagte Othon einzuwenden. »Oder jemand hat sie versteckt.«
»Versteckt?« Vhara verzog das Gesicht, als hätte Othon soeben etwas ausgesprochen Dummes gesagt. »Wie sollte sie sich vor den Mächten der Magie verstecken? Nein, das ist unmöglich. Gaelithil ist tot. Niemand außer ihr vermochte die Grenzen zwischen den Welten zu durchschreiten.« Sie schüttelte den Kopf »Versteckt … Welch törichter Gedanke.«
»Aber wir wissen doch nicht …«
»Ach, verflucht, so kommen wir auch nicht weiter«, fiel Vhara Othon ins Wort. »Wir haben noch einen einzigen Versuch. Diesmal muss es gelingen.« Sie griff nach dem prachtvoll bestickten Umhang der Herrscherrobe und warf ihn Othon zu. »Schaff mir noch heute eine Jungfrau herbei!«, forderte sie streng. »Eine wirkliche Jungfrau! Hast du verstanden? Bald wird das Kleinod in den Besitz der rechtmäßigen Trägerin übergehen. Also spute dich, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Der Morgen kam mit einem fahlen Silberlicht, das durch die kühlen Nebel der Dämmerung sickerte und die Dunkelheit westwärts trieb. Während sich die Sonne im Osten aus dem grauen Dunst über der Ebene Nymaths erhob, spülten die seichten Wellen des endlosen Ozeans die Überreste des nächtlichen Sturms an den Strand. Alles war friedlich.
Inahwen schritt allein durch den kleinen Garten, der unmittelbar nach der Gründung Sanforans innerhalb der Bastei angelegt worden war und seitdem von den Kräuterfrauen liebevoll gepflegt wurde. Die junge Elbin wirkte ruhig und gefasst, doch selbst die farbenprächtige Schönheit der späten Sommerblumen vermochte den Schmerz in ihren Augen nicht zu lindern.
Er kann nicht tot sein. Das ist nicht möglich! Die Worte kreisten in ihren Gedanken, als genügte allein
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