Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
netter Zeitvertreib, aber …«
»Ein Zeitvertreib?« Erbost trat die Priesterin näher und riss Othon das schützende Fell aus der Hand. »Ein Zeitvertreib? Ist dir das, was ich dir gebe, etwa nicht genug?« Während sie Othon missbilligend ansah, ließ sie sich auf die Bettkante sinken, schürzte die tiefroten Lippen, krümmte die rechte Hand zu einer Klaue und fuhr ihm mit den langen, dunkelgrün gefärbten Fingernägeln langsam vom Brustbein bis zum Nabel hinab. Die spitzen Krallen hinterließen blutige Striemen auf der Haut des Regenten, doch kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen. Gebannt starrte er die Priesterin an und wagte nicht zu atmen. Furcht und gierige Lust spiegelten sich in den grauen Augen des Mannes, während er darauf wartete, dass sie die Bewegung weiter führte.
»Oh, Vhara«, seufzte er erregt. »Wie kannst du so etwas nur denken. Diese Jungen sind … sie könnten niemals … dich … ah!« Verzückt schloss er die Augen. Unter den ergrauten, kurz geschnittenen Haaren bildeten sich winzige Schweißperlen, und die Lippen bebten. Die Priesterin war die Einzige, die seine geheimsten Schwächen und Vorlieben kannte und diese auf unvergleichliche Weise zu befriedigen wusste. In den vielen Wintern, die er nun schon als Whyono über die Uzoma herrschte, war die scheinbar alterslose Frau mit den langen schwarzen Haaren und den geheimnisvollen Katzenaugen zu einem unverzichtbaren Teil seines Lebens geworden. Wie ein Süchtiger gierte er nach den qualvollen Zärtlichkeiten, mit denen sie ihn zu verwöhnen pflegte, und litt wie ein geprügelter Hund, wenn sie ihm, wie so oft, mit eisiger Gefühlskälte begegnete. »Oh, Vhara«, stöhnte er wollüstig, »hör nicht auf, bitte!«
Doch die Hohepriesterin war nicht in der Stimmung für derartige Gefälligkeiten. Mit einem verächtlichen Lächeln betrachtete sie die ungestalte Leibesfülle des Regenten, ließ die Hand verheißungsvoll noch etwas tiefer gleiten – und zog sie dann ruckartig fort. »Ich bin nicht hierher gekommen, um deine brünstigen Bedürfnisse zu befriedigen«, sagte sie stolz und erhob sich. »Steh auf und kleide dich an.«
Othon verzog enttäuscht den Mund. »Warum?«
»Ich brauche noch eine deiner Frauen!«
»Noch eine …« Othon verstand nicht recht. »Aber ich habe dir doch erst gestern dieses hübsche junge Mädchen geschickt. Du weißt schon, diese …«
»Jungfrau?« Vhara lachte verächtlich. »Wie blind bist du eigentlich, Othon? Wäre sie eine Jungfrau gewesen, hätte die Magie nicht versagt. Nur das Blut reiner Mädchen ist unfehlbar und vermag meine Magie über die Weltengrenzen hinweg zu tragen, aber diese … diese …«Im letzten Augenblick schluckte Vhara die abfälligen Worte herunter, die ihr auf der Zunge lagen. Diese nichtsnutzigen Buhlerinnen, die Othon die Zeit vertrieben, wenn er der Knaben überdrüssig wurde, waren es nicht wert, sich ihretwegen aufzuregen. Sie riss sich zusammen und fuhr mit gefasster Stimme fort: »Die Uzoma sind doch nicht dumm. Glaubst du ernsthaft, die Konkubinen und Jünglinge, die sie dir anbieten, seien noch unberührt? Die Stammesoberhäupter, diese verdammten Lügner und Betrüger, wissen inzwischen sehr genau, wie sie sich deine Gunst erschleichen können. Jungfrauen – pah! Wie lächerlich. Die meisten Mädchen, die sich hier in den Gemächern tummeln, sind nichts anderes als gewöhnliche Metzen, von den Uzoma verstoßen und nur deshalb nicht getötet, weil sie jung und hübsch genug sind, um den mächtigen Whyono gnädig zu stimmen.« Die abfällige Art und Weise, in der die Priesterin die Worte betonte, hätten jeden anderen Untertan auf der Stelle den Kopf gekostet. Doch Vhara wusste um ihre Macht und schreckte nicht davor zurück, den Mann zu demütigen, dem das Volk zu Füßen lag.
Ihr war klar, dass Othon bei weitem nicht der starke Herrscher war, der er zu sein vorgab. Hinter der harten und unnachgiebigen, oft grausamen Maske, die er nach außen hin zeigte, verbarg sich eine jämmerliche Gestalt mit verweichlichtem Charakter, die Vhara geschickt für ihre Zwecke zu nutzen wusste, im Grunde aber zutiefst verachtete. Es widerte sie an, das weiche, erschlaffte Fleisch des Regenten zu berühren, wenn er sich schwitzend und stöhnend den diabolischen Grausamkeiten hingab, von denen er nicht genug bekommen konnte. Sie hasste den verlangenden, weichlichen Blick, mit dem er sie so oft bedachte, und die kriecherische Art, mit der er sich bei ihr einzuschmeicheln versuchte.
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